Predigt zur Hubertusmesse am 6. November 2006[1]

gehalten von Propst Peter Godzik

Liebe Jäger-Familie, liebe Gemeinde,

was ist eigentlich dran an diesem Heiligen Hubertus? Wir wissen nur wenig von ihm. Im Jahr 727 ist er verstorben. Wahrscheinlich ist, dass er 20 Jahre zuvor Bischof von Maastricht geworden und davor ein Edelmann gewesen ist, der sich unter anderem auch aufs Jagen verstand. Was ist dran an diesem Hubertus, dessen Gedenktag der dritte November ist?

Uralte Legenden ranken sich um ihn herum. Das Thema der Jagd und der Jagdleidenschaft ist auf seine Person konzentriert. Das ist nichts Ungewöhnliches. Auch Menschen in anderen Kulturen haben davon zu erzählen gewusst, dass die Jagd eine zweischneidige Sache ist: Hier tötet der Mensch, greift gewaltsam in den Zusammenhang des Lebendigen ein. Er tut das, um Leben zu erhalten. Das ist das Ziel: Leben erhalten. Der Konflikt: Leben erhalten – das geht nur, indem andere ihr Leben hergeben.

Die Hubertus-Legende zeigt den Menschen in seiner Zerrissenheit angesichts der Anforderungen, denen er sich zu stellen hat. Sie zeigt den Menschen, der selber ohnmächtig ist, aber gerade darum die Macht sucht. Sie zeigt den Menschen, der leben will – und dafür den Tod in Kauf nimmt.

Vielleicht ist das, liebe Gemeinde, der Grund dafür, warum wir auch zu Beginn des dritten Jahrtausends auf diese uralte Legende zurückkommen. Hubertusmessen haben Konjunktur – und das wohl erst seit gut dreißig Jahren. Vorher waren sie Jahrhunderte lang für Nichtjäger fast in Vergessenheit geraten. Und heute scheinen sie Menschen in ihren Bann zu ziehen.

Das liegt nicht daran, dass wir etwa heute mehr als früher eine kirchliche oder gottesdienstliche Besinnung auf das Wesen des Jagens bräuchten als früher. Jäger jagen – ob mit oder ohne Gottesdienst – das war schon immer so und wird auch so bleiben. Dass wir Menschen des dritten Jahrtausends dennoch gerade diese uralte Legende vom heiligen Hubertus für uns wiederentdecken, hat auch nicht bloß in dem beeindruckenden Schauspiel der Parforcejagdhörner hier im Gottesdienst seinen Grund. Ich glaube vielmehr, dass die bleibende Aktualität dieser uralten Legende darin liegt, dass sie – wie viele Heiligenlegenden – eine brandaktuelle Frage stellt. Nämlich die Frage danach: Was ist der Mensch? Was ist der Mensch im Lichte der Hubertus­legende?

Zuerst einmal: der Mensch, der zutiefst frustriert ist darüber, dass er gegenüber Schicksalsschlägen so wenig ausrichten kann – und gerade deshalb in der Gefahr steht, gierig und rücksichtslos um sich zu schlagen. Hubertus, so berichtet die Legende, ist verheiratet. Er ist begütert und geht wie andere seiner Stellung auch in seiner Freizeit der Jagd nach. Hubertus ist ein glücklicher Mensch. Seine Frau ist schwanger. Hubertus erwartet den Erben. Und wie jeder werdende Vater umsorgt er seine Frau, träumt bereits davon, wie er seinem Sohn – eine Tochter als Nachwuchs konnte er sich wohl nicht recht vorstellen – das Reiten beibringen würde, wie er mit ihm erst Spielen, dann zusammen auf die Jagd, auf Bälle, Ritterspiele oder in den Krieg ziehen würde. Hubertus ist glücklich, wenn er sich das ausmalt. Er ist im Vollbesitz seiner Kräfte.

Aber dann kommt alles ganz anders: Seine Frau stirbt bei der Geburt. Und sie reißt den erhofften Erben mit in ihren Tod. Hubertus fühlt, wie seine Träume platzen. Ihm ist, als habe man eine Schlinge um seinen Hals gelegt. Das Atmen wird schwer. Er stürzt in den Stall, sattelt das Pferd und in scharfem Galopp geht es ins Freie: Luft. Freiheit. Immer voran. Wenigstens hier weiß er, wo es langgeht. Hier stellt sich ihm keiner in den Weg. Hier ist er der Herr.

Die Frau tot, der ersehnte Sohn nicht geboren. Hubertus sieht sich dem Schicksal ausgeliefert. Er ist am Ende – und will all dem entfliehen: in der Jagd. Denn dort ist er der Herr über Leben und Tod. Hubertus sieht einen kapitalen Hirsch, heftet sich an seine Spuren. Sein Instinkt, seine Leidenschaft sind erwacht. Vergessen die Frau, das tote Kind, die enttäuschten Hoffnungen – und zugleich sind sie doch ganz da, untergründig schwelt die Enttäuschung, die Wut, das Gefühl des Ausgeliefertseins. Er weiß: Ich schaffe es – diesen Hirsch, dieses Tier. Ich werde es erlegen. Ich, selber dem Tod ausgeliefert, bin zugleich Herr über Leben und Tod, wenigstens in der Jagd.

Was ist der Mensch? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht.

Was ist der Mensch? Kluge Jagdausbilder geben ihren Leuten den Rat: „Bleibt sitzen, wenn ihr einen Schuss abgegeben habt. Geht nicht gleich zu dem erlegten Wild. Nehmt euch die Zeit – nur so lernt ihr zu respektieren, dass ihr eingriffen habt in das Leben der Geschöpfe.“

„Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk“, schreibt der Psalmist. „Alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere.“

Es ist ein Herrschaftsakt, darüber zu entscheiden, was lebt und was nicht mehr leben soll. Es ist ein Herrschaftsakt, der der Herrschaft Gottes ähnelt, denn Gott gibt das Leben und nimmt es wieder.

Genau das drückt sich für mich in diesem Hinweis der Jagdausbilder aus: Wartet, bevor ihr zu dem erlegten Stück Wild geht. Natürlich spricht auch einiges an waidmännischen und jagdtechnischen Überlegungen für diese Verweilzeit auf dem Hochstand. Zugleich aber wird dieses Warten dem elementaren Herrschaftsakt gerecht. Es zeigt an: Hier nimmt sich der Mensch etwas heraus, was ihm nicht automatisch zusteht. Hier handelt der Mensch in einem Grenzbereich. Die Macht über Leben und Tod ist nur ein ihm anvertrautes Mandat, eine ihm übertragene Aufgabe.

Jäger nehmen – stellvertretend für uns – dieses Mandat wahr. Jäger haben Verantwortung, da sie über Leben und Tod von Geschöpfen entscheiden. Aber wer Verantwortung trägt, kann und muss sich auch verantworten. Er kann Rechenschaft darüber ablegen, mit welchem Recht sich ein Mensch dieses Herrschaftsrecht herausnimmt: Leben zu nehmen. Auch Soldaten müssen sich das immer wieder fragen, wenn sie in tödliche Auseinandersetzungen geschickt werden.

Wir haben ein Mandat. Und wir stehen alle immer wieder in diesem Konflikt, dass wir, um Leben zu erhalten, Leben womöglich beenden müssen. Wer darüber keine Rechenschaft abzulegen bereit ist, versündigt sich an Gottes Schöpfung, an seiner Herrschaft, die er uns Menschen übertragen hat.

Es ist von daher durchaus sachgemäß, wenn es auch in der Präambel zu unserem Grundgesetz, das die Bereiche staatlicher und gesellschaftlicher Herrschaft in unserem Lande absteckt, heißt: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ... hat das deutsche Volk ... dieses Grundgesetz beschlossen.“ Jede Form von Herrschaft oder Machtausübung, ob im Staat, in der Kirche, in der Familie oder schließlich und endlich auch in der Natur, muss sich Rechenschaft vor Gott und den Menschen ablegen. Wo Herrschaft ausgeübt wird, wo Macht zum Zuge kommt, die sich nicht verantworten kann und will, verwirkt sie ihr Recht.

In gewisser Weise können wir stolz darauf sein, dass die Politik, die Kirchen, Arbeitgeber und Mediziner, Forschung und Technik und eben auch Soldaten und Jäger immer wieder danach gefragt werden: Was dürfen wir als Menschen und was nicht? Wie geht ihr um mit dem Mandat, das euch gegeben wurde – mit Macht und Herrschaft? Wir alle sind – in den unterschiedlichen Bereichen unseres Lebens – immer wieder dazu herausgefordert, auf diese Frage Antworten zu geben – heute vielleicht mehr als je zuvor.

Es wäre geradezu unnatürlich, wenn wir die, denen ein Herrschaftsrecht übertragen ist, nicht immer wieder nach der Legitimität ihres Handelns befragen würden. Wir müssen es geradezu – aus Verantwortung vor Gott, den Menschen und seiner weiteren Schöpfung. Denn das ist der Mensch: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan.“ Oder, mit einem Wort Jesu: „Wem viel anvertraut ist, von dem wird man auch viel fordern.“ (Lk 12,48)

Zurück zu Hubertus: Dieser Heilige ist nicht von vornherein ein heiliger Mann – also jemand, der sich verantwortet für sein Handeln vor Gott. Im Gegenteil: Er lässt sich von seinen durchaus verständlichen Instinkten leiten. Er will dem, was er erfahren hat, entkommen: dem Tod, dem Schloss – kurz: er will die komplizierte Wirklichkeit hinter sich lassen. Wer könnte das nicht verstehen?! Wir wissen aber: Wir können unserer Wirklichkeit nicht entkommen, nicht im Rausch, nicht im Wald und erst recht nicht, indem wir unsere Verantwortung nicht bewusst wahrnehmen. Es gibt kein Ausweichen vor der Frage: Wer bist du Mensch? Was tust du? Darfst du, was du tust?

Hubertus versucht es trotzdem – und wir ahnen, wie das ausgehen wird: ein Blutbad, ein Blutbad im Wald. Wer selbst ohnmächtig ist, möchte irgendwo, und sei es nur an den Geschöpfen, seinen Machtinstinkt ausleben. Denken Sie nur an die Jugendlichen, die hier ganz in unserer Nähe vor einiger Zeit offenbar über Jahre Katzen gequält und umgebracht haben. Wo Menschen ihr Verantwortungsgefühl ausschalten, vergessen sie sich selbst, verlieren sie ihr menschliches Gesicht, ihre Würde – und gehen menschenverachtend mit ihrer Mitwelt um. Gottlos nennt die Bibel das – verantwortungslos.

Hubertus gehörte auch zu diesen Menschen, so erzählt die Legende. Auch er handelte instinktgeleitet, aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus, das danach drängt, doch noch irgendwie Macht auszuüben. Deshalb will er den Hirsch erlegen – wie auch immer. Doch da wird er plötzlich unterbrochen. Ihm gehen die Augen auf. Er erkennt seine Verantwortung. Nicht mehr dieses „Ich – ich – ich bin doch der Herr“, nicht mehr diese Angst, selbst zu kurz zu kommen, sondern mit einem Mal tritt ihm die Wahrheit seiner Existenz selbst vor Augen.

Die Legende erzählt das so: Hubertus hetzt dem Tier nach. Zweige schlagen ihm ins Gesicht. Er ist dem Hirschen schon ganz nahe, kann ihn riechen – und mit einem Mal hat er ihn vor sich. Majestätisch, ein Hirsch. Er hält inne. Aug in Aug mit dem Tier. Beide atmen heftig. Er hebt den Bogen, zielt – und sieht erst jetzt, wo er genau zielt, in dem Geweih des Hirsches ein Kreuz.

Gott am Kreuz: getötet aus menschlicher Machtgier und Eigennutz. Und wie mit der Stimme seines eigenen Gewissens scheint Gott durch diesen Hirsch zu ihm zu sprechen: „Wenn du dich nicht wahrhaft zum Herrn bekehrst, wirst du zur Hölle fahren.“

Ist er nicht schon dort – dieser Edelmann? Ist er nicht auf dem besten Wege sich selbst, seiner Mitwelt und seinen Mitgeschöpfen das Leben zur Hölle zu machen? Gott selbst stellt ihm diese Frage:

Was ist der Mensch? Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und was des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?

Man kann das als Frage hören: Was ist der Mensch, dass du, Gott, seiner gedenkst? Man kann das aber auch als Ausdruck maßlosen Erstaunens hören. „Was ist doch der Mensch, dass du, der ewige Gott, seiner gedenkest, und was ist doch des Menschen Kind, dass du dich seiner immer wieder annimmst!“

Die Legende vom heiligen Hubertus zeigt, wer hier heilig ist: Gott selbst. Er hat seine Schöpfung nicht sich selbst überlassen. Er möchte, dass auf dieser Welt Spuren heiligen Lebens sichtbar werden. Deshalb stellt er sich Hubertus in den Weg: ein Geweih mit einem Kreuz. Hier stößt der ohnmächtig-mächtige Hubertus heilsam an eine Grenze. Aus dem Geweih klingt die Stimme zu ihm herüber: „Ich mag diese Welt. Ich sehe dein Leid, aber ich bleibe dir treu. Da schau: Mein Sohn – er hat gelitten, an den Menschen, an der Gewalt, die ihr Menschen euch antut, an dem Unrecht, das ihr euch zufügt. Er ist daran zugrunde gegangen. Mir tat das weh, sehr weh, will ich doch, dass er lebt, dass ihr lebt. Ich kann euch nicht aufgeben, will es nicht – auch wenn ihr nicht locker lasst, Macht zu missbrauchen.“

Hubertus ließ den Hirsch laufen. Er ließ ihn am Leben – und fand darüber selbst zu seiner Verantwortung zurück. Nicht, dass er die Jagd aufgegeben hätte. Er wurde Mönch und später Bischof – und Bischöfe seiner Zeit gingen wie andere auch der Jagd nach. Dennoch hat diese Erfahrung sein Leben verändert. Er ist sich seiner Verantwortung bewusst geworden. Was ist doch der Mensch, dass du Gott, seiner immer neu gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich immer neu seiner annimmst!

Liebe Jäger-Familie, liebe Gemeinde, das Beispiel des heiligen Hubertus ist nicht nur auf den Bereich der Jagd beschränkt. Seine Legende zeigt uns nicht nur den Jäger, sondern hält uns in erster Linie die Frage vor: Wer bist du? Wie übst du Macht aus? Bist du bereit, für dein Tun einzustehen? Und zeigt dabei zugleich: Du kannst anders; du kannst Verantwortung wahrnehmen – für die Schöpfung, für die Umwelt, für die Mitwelt. Das, so scheint mir, ist heute im Interesse der vielen notleidenden Menschen in unserem Land notwendiger denn je. Denn wenn wir so handeln, verantwortungsbewusst, entsprechen wir dem Handeln Gottes an uns. Was ist der Mensch? Du, Gott, hast ihn wenig niedriger gemacht als dich selbst, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk.

Wir haben ein Mandat, eine uns übertragene Aufgabe – hoffen wir, dass wir ihr gerecht werden! Denn sonst machen wir uns und anderen das Leben zur Hölle. Das will keiner. Gott am wenigsten. Amen.



[1] Nach einer Predigt von Superintendent Dr. Christoph Künkel; im Internet unter: http://www.kirchenkreis-hittfeld.de/kirchenkreis-hittfeld/kirche-fuer-jeden-tag/predigten/predigtarchiv/predigt-in-der-hittfelder-stmauritiuskirche.html.