Rede
zum Volkstrauertag am 15.11.1998 in Ratzeburg
gehalten von Propst Peter Godzik
„Er fiel im Oktober 1918 an einem Tag,
der so ruhig und still war, an der ganzen Front, daß der Heeresbericht
sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu
melden.“
Sehr geehrter Herr Landrat! Sehr geehrter
Herr Bürgermeister! Meine Damen und Herren!
Mit diesen Worten endet der später so
bekannt gewordene Roman von Erich Maria Remarque,
der nach seinen eigenen Worten über eine Generation berichten wollte, die
vom Krieg zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam.
Mein Großvater Alois Godzik, im Mai
1888 in Oberschlesien geboren, erlebte im Dezember 1916 keinen so stillen Tag
an der Westfront. Er geriet in die große Schlacht an der Somme
in Frankreich und kam am 14. Dezember 1916 ums Leben, nur neun Monate nach der
Geburt meines Vaters.
Es war der Erste Weltkrieg, von dem hier die
Rede ist und der fast auf den Tag genau heute vor 80 Jahren zu Ende ging. Ein
Krieg, der für die junge Generation unter uns lediglich eine Legende
darstellt, obwohl noch Menschen aus unserer Mitte weilen, die ihn miterlebt
haben.
Als dieses so friedlose Jahrhundert, in dem
wir leben und das sich jetzt langsam seinem Ende zuneigt, einst begann, erlebte
Europa eine Zeit, in der niemand auch nur im Entferntesten daran dachte,
daß sich die Völker erheben könnten, um auf den Schlachtfeldern
und in den Schützengräben Väter, Ehemänner und Söhne
des Nachbarvolkes zu töten. Die Bilanz dieses in seinem Ausmaß so
erschreckenden Völkermordens war erschütternd: Über zehn Millionen
Tote waren zu beklagen, darunter rund zwei Millionen deutsche Soldaten.
Neben der Trauer um den Verlust eines
Angehörigen gesellte sich oft in Deutschland die bittere Erkenntnis,
daß „ihre Gräber verlassen in fremder Erde, fern von der
Heimat lagen und nicht eine deutsche Hand sie vor trauriger Verödung oder
langsamem Verfall“ bewahren konnte, wie es 1920 in dem Aufruf zur
Gründung des „Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge“
mahnend hieß. Auch ich habe das Grab meines Großvaters trotz
intensiver Suche nicht ausfindig machen können.
Die Männer, die damals öffentlich
und dann auch erfolgreich dafür eintraten, daß die
„Ehrenstätten der Gefallenen würdig erhalten bleiben
sollten“, ahnten selbst in ihren schlimmsten Träumen nicht,
daß schon knapp zwanzig Jahre später in Europa erneut ein Krieg
ausbrechen sollte, der in seiner Länge und in seiner Ausdehnung alles in
den Schatten stellen würde, was man in den Jahren zwischen 1914 und 1918
an Leid und Schrecken hatte erfahren müssen. Denn neben den Tod an der
Front trat nun der Tod in der Heimat, im Luftschutzkeller, auf der Flucht oder
in den Hinrichtungsstätten und in den Konzentrationslagern des verbrecherischen
Hitlerregimes. Über 50 Millionen Kriegsopfer waren zu beklagen, als
endlich die Waffen schwiegen und große Teile Europas für viele
Jahrzehnte als verwüstet erschienen.
Mein Vater wurde in diesem Krieg schwer
verwundet und aus der Heimat vertrieben, das Grab eines Verwandten mit dem
Namen Godzik habe ich nach Jahren in der Nähe von Schleswig auf einem
Soldatenfriedhof gefunden. Aber andere Familien haben noch viel
Schlimmeres ertragen müssen, ja sind zusammen mit so vielen Leidensgenossen
ganz und gar ausgelöscht worden.
Zweimal also sind in unserem Jahrhundert,
ungeachtet aller eindringlichen Mahnungen zum Frieden, die Waffen erhoben
worden. Mit dem bitteren Ergebnis, daß wir Heute in über 80
Staaten unserer Erde deutsche Kriegsgräber aus dem Ersten und Zweiten
Weltkrieg finden. Von A bis Z, von Ägypten bis nach Zypern, reichen die
Kriegsgräber, und darunter befinden sich Länder, die den jungen
Menschen heute zu deren Glück nur als fröhliche Urlaubsparadiese
bekannt geworden sind, wie z.B. Barbados, Jamaika, Griechenland, Malaysia,
Schweden, die Schweiz, Spanien oder die Türkei, um nur diese zu
erwähnen. Der moderne Krieg kennt keine Grenzen!
Wenn wir uns heute versammelt haben, um am
Volkstrauertag all' der Toten ehrend zu gedenken, die in beiden Weltkriegen
irgendwo auf der weiten Welt ihr meist junges Leben lassen mußten, dann
vereint sich mit unserem Gedenken die Bitte, nein die Forderung, niemals wieder
zuzulassen, daß zur Erreichung irgendwelcher politischen Ziele Waffen
erhoben werden. Denn stets wurde zur Begründung dafür die Behauptung
aufgestellt, das alles geschehe nur zum Besten der eigenen Völker. Am Ende
aber blieb diesen nur die bittere Erkenntnis, die Hermann Hesse in seinem
Gedicht „Tod im Felde“ wie folgt formulierte:
Du Fremder, der mich hingestreckt,
nun liegst auch Du, von Nacht bedeckt,
im friedevollen Sternenschein.
Und unser Streit und Hassen,
muß in der Nacht verblassen:
bald werden wir versöhnt und Brüder
sein.
Das Hesse-Gedicht deutet ein Jenseits des
Todes an, in welchem Brüderlichkeit und Versöhnung herrscht. Der
christliche Glaube geht noch einen Schritt weiter und formuliert für alle – die Lebenden, die Sterbenden und die Toten:
„Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir,
so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben
oder sterben; so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und
wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr
sein.“ (Römer 14,7-9)
Die Mahnung der Kriegstoten, die heute
besonders eindringlich erscheint, mündet in die Forderung ein, sich nicht
nur an ihren Gräbern, sondern auch über alle Grenzen hinweg zu
versöhnen. Auch dazu formuliert der christliche Glaube eine noch viel
umfassendere Hoffnung. Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth: „Ist
jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe,
Neues ist geworden. Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber
versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die
Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt
mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns
aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an
Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt:
Laßt euch versöhnen mit Gott!“ (2. Korinther 5,17-20)