Ansprache zum Volkstrauertag 2000 in Ratzeburg

gehalten von Propst Peter Godzik

 

Sehr geehrter Herr Landrat, sehr geehrter Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren!

 

Seit einigen Monaten schreiben wir nun schon das Jahr 2000. Die mit dem spektakulären Jahreswechsel verbundenen finsteren Prophezeiungen haben sich nicht erfüllt. Die großen Ängste, die manche hegten, haben sich als unbegründet erwiesen. Können wir nun also unbelastet und hoffnungsvoll in die Zukunft sehen? Unbelastet ganz gewiss nicht! Unsere Bilanz des vergangenen Jahrhunderts zeigt nicht nur schwarze Zahlen. Neben den reichen Erträgen des Fortschritts stehen enorme Verpflichtungen, unter die wir keinen Schlussstrich ziehen dürfen.

Die Bemühungen um eine Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter sind ein Beleg dafür, wie stark jahrzehntelang zurückliegendes Unrecht in unsere Zeit hineinwirkt. Die Begleichung dieser alten Schuld ist nicht nur eine Verpflichtung den greisen Opfern gegenüber, die für geraubte Jahre und zerstörtes Lebensglück nicht wirklich entschädigt werden können; sie dokumentiert auch, dass die bedrückendste Phase unserer Geschichte nicht verdrängt und nicht vergessen ist.

Das wird auch durch das Holocaust-Denkmal am Brandenburger Tor in Berlin sichtbar werden, dessen Grundsteinlegung zu Beginn dieses Jahres erfolgte. Im Zentrum der Hauptstadt wird es schon durch seine enorme Größe ein nicht zu übersehendes Zeichen dafür sein, dass historische Schuld in unserem Land nicht versteckt wird.

Dass die Kriegsgeneration aber nicht nur an das von Deutschen verursachte, sondern auch an das erlittene Leid und Unrecht erinnert – wer will ihr das verdenken? Die Luftangriffe auf Hamburg, Dresden und viele andere Städte, die Versenkung des mit Tausenden von Flüchtlingen besetzten Passagierschiffes „Wilhelm Gustloff“ und das Elend der Vertriebenen haben sich in das Gedächtnis der Zeitzeugen unauslöschlich eingebrannt. An diese Ereignisse zu erinnern, bedeutet nicht, dass Schuld aufgerechnet werden soll.

Es muss auch heute möglich sein, der gefallenen deutschen Soldaten ehrend zu gedenken, ohne gleich zum politischen Rechtsaußen abgestempelt zu werden. Auch wenn heute die Beweggründe derer, die sich dem Kriegsdienst verweigerten, respektiert werden und Deserteure Anerkennung finden, darf nicht der Eindruck entstehen, dass die jungen Menschen, die damals der Wehrpflicht Folge leisteten, moralisch minderwertig waren. Sie alle waren geprägt von ihrer Zeit, eingebunden in eine Ordnung und verpflichtet durch ihren militärischen Eid. Sie wurden von einem totalitären System vereinnahmt, das Tugenden gewissenlos missbrauchte.

Wir sollten vor allem die jungen Wehrmachtssoldaten nicht mit einer Verantwortung belasten, die vorrangig bei den politischen und militärischen Entscheidungsträgern lag. Die Millionen „Zivilisten in Uniform“, deren Lebenspläne der Krieg durchkreuzte, die ihre Jugend, ihre Gesundheit oder gar ihr Leben verloren, haben einen Anspruch darauf, vor Diffamierung geschützt zu werden. Die Toten sind auf unsere Gerechtigkeit angewiesen. Eine einseitige Darstellung der Wehrmacht als insgesamt einen Vernichtungsfeldzug führend und dabei Kriegsverbrechen begehend, ist ehrverletzend und schmerzt die Überlebenden und Hinterbliebenen. Den nachfolgenden Generationen sollte nicht der Eindruck vermittelt werden, ihre Großväter und Urgroßväter seien allein schon durch ihre Wehrmachtszugehörigkeit schuldig geworden. Kollektivschuld einer ganzen Armee oder gar eines ganzen Volkes kann es nach aufgeklärtem Rechtsverständnis nicht geben. Schuld darf nur im jeweiligen Einzelfall personen- und tatgebunden zugerechnet werden.

Und außerdem gilt: Wer den Blick auf die deutsche Geschichte zu sehr auf die zwölf Jahre der Diktatur verengt und die Vergangenheit des eigenen Volkes vorwiegend mit Scham und Abscheu betrachtet, urteilt nicht nur ungerecht, sondern wird kaum die Zuversicht und das nötige Selbstbewusstsein aufbringen, um sich gemeinsam mit anderen den Herausforderungen des Hier und Heute stellen zu können. Die Opfer unserer Tage verlangen unsere Aufmerksamkeit. In bloßer Erinnerung und Vergangenheitsbewältigung mutlos zu verharren, hieße, unserer Verantwortung ihnen gegenüber nicht gerecht zu werden.

Wir müssen die vorwärtsgerichtete Funktion von Rückschau und Vergangenheitsbewältigung herausstellen. Die Vergangenheitsbewältigung schafft die Voraussetzung für Versöhnung und Zusammenarbeit; das Bewahren der Erinnerung hilft uns, unser Gewissen und unsere Urteilskraft zu schärfen. Von einer lebendigen Erinnerung geht eine humanisierende Wirkung aus. Sie weckt Betroffenheit, Anteilnahme, Mitleid und Sorge. Wir machen uns Sorgen um den aufwachsenden Rechtsradikalismus in Deutschland. Wir machen uns Sorgen um den Frieden im Nahen Osten. Wir setzen uns unerschrocken ein für den Frieden im Innern wie nach außen.

In unserer hektischen Zeit sind die Friedhöfe und Gedenkstätten Orte der Besinnung und Stille, zugleich aber auch Orte der Begegnung. Fast eine Million Besucher zählt der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge jährlich auf den Kriegsgräberstätten, und etwa 3.000 junge Menschen nehmen in jedem Jahr an nationalen und internationalen Jugendlagern zur Pflege der Soldatenfriedhöfe teil. Eine meine Töchter ist in den Sommerferien in Arras in Nordfrankreich gewesen, um dort Kriegsgräber zu pflegen. Ihr Urgroßvater starb 1916 in der Schlacht an der Somme.

Auf mehreren Friedhöfen im Ausland hat der Volksbund Jugendbegegnungsstätten errichtet, in denen friedenspädagogische Arbeit geleistet wird. Die persönliche Begegnung und das Miteinander von jungen Menschen aus ehemals verfeindeten Ländern sind ein wichtiger Beitrag zur Versöhnung und zum Frieden über den Gräbern.

Wir bewahren die Soldatengräber über die übliche Zeit hinaus, weil sie Mahnmale gegen Krieg und Vergessen sind. Das Heer der Kreuze auf den schier endlosen Gräberfeldern führt uns die tödlichen Folgen politischen Versagens vor Augen. Gleichzeitig richten die Kreuze eine Botschaft an uns. Sie können uns Wegweiser in eine friedvolle Welt sein und somit auch Zeichen der Hoffnung.

 


Totenehrung

Wir denken heute

an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken

der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer,

die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer,

die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern

um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Opfer sinnloser Gewalt, die bei uns Schutz suchten.

Wir trauern

mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen um die Toten. Doch unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der Welt.