Ansprache zum Volkstrauertag am 18. November 2001

gehalten von Propst Peter Godzik

Sehr geehrte Frau Kreispräsidentin,

sehr geehrter Herr Landrat,

sehr geehrter Herr Bürgermeister

meine sehr geehrten Damen und Herren!

In diesen Tagen zwischen Allerheiligen, dem heutigen Volkstrauertag und dem Totensonntag zieht es viele von uns immer wieder auf die Friedhöfe im ganzen Land; an das Familiengrab, an die Gräber von Freunden und Bekannten.

Bei diesen Besuchen kommt immer wieder auch die Erinnerung an die Menschen aus unseren Familien, die in den zwei Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts ihr Leben gelassen haben. Wir erinnern uns der Toten, die nicht am Ende eines erfüllten Lebens starben, sondern es hingeben mussten, weil die Welt wieder einmal keinen Weg zum Frieden gefunden hatte. Solche Toten sind immer Opfer der Politik, ob sie diese Politik einst begeistert mittrugen oder sich von ihr unterdrückt und überwältigt fühlten. Sie ruhen heute, wie die Angehörigen vieler anderer Nationen, auf den Soldatenfriedhöfen und Kriegsgräberstätten in aller Welt oder ihr Grab ist unbekannt. Zu ihnen gehören auch jene, die ihres Glaubens, ihrer Rasse oder ihrer politischen Überzeugung wegen zu Opfern wurden.

Vor 56 Jahren ging eine der größten Katastrophen unserer jüngeren Geschichte zu Ende. Der deutsche Staat lag, verführt von einer verbrecherischen Regierung, zerschlagen am Boden, die Städte waren zerstört und viele Millionen unserer deutschen Landsleute auf der Flucht.

55 Millionen Menschen – davon fast acht Millionen Deutsche – bezahlten den schrecklichen Zweiten Weltkrieg mit ihrem Leben. Für viele unserer deutschen Landsleute begannen das Elend und das Sterben erst nach der Kapitulation in der Gefangenschaft oder während der Vertreibung aus der Heimat. Wir nehmen auch heute noch Anteil an dem Schicksal der betroffenen Familien und fühlen uns nicht nur an diesen Tagen mit ihnen verbunden.

Was uns betrüblich stimmt, ist die Tatsache, dass die Völker der Erde aus dem damaligen Kriegsgeschehen kaum Lehren gezogen haben. Egoismus, Machtgier und Intoleranz regieren noch immer an vielen Orten der Welt. Die Medien berichten fast jeden Tag davon. Jüngstes Beispiel: Die verbrecherischen Terroranschläge auf das Welthandelszentrum in New York und das US-Verteidigungsministerium in Washington und die daraus folgenden Luft- und Bodenangriffe gegen das Taliban-Regime und das El-Kaida-Netzwerk in Afghanistan sowie die immer noch blutigen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern.

Strittige Fragen der Weltpolitik oder der nationalen Identität werden auch heute noch vielerorts mit Gewalt gelöst und Hass wird geschürt zwischen den Religionen und Völkern. Dieses Verhalten einzelner verblendeter Menschen oder ganzer Terrorbanden oder Unrechtsregime birgt eine latente Gefahr für bewaffnete Auseinandersetzungen und Kriege. Die freie westliche Welt ist gegenwärtig in einer Weise durch den Terrorismus herausgefordert worden, die eine militärische Intervention unvermeidlich gemacht hat. Auch die Soldaten der Bundeswehr müssen sich bereit halten, in diesem Konflikt in der einen oder anderen Weise eingesetzt zu werden. Wir bitten und beten darum, dass es neben der militärischen Option auch andere, friedliche Konfliktlösungsstrategien gibt, die den Sumpf terroristischer Gewalt auszutrocknen vermögen. Wir müssen für mehr Gerechtigkeit in der Welt sorgen und mithelfen, dass Konflikte friedlich gelöst werden können.

Wir sind es den Toten der Kriege einfach schuldig, ihr Opfer endlich ernst zu nehmen und uns selbst zu ändern. Es genügt nicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen und unser Leben so weiter zu führen, wie wir es bisher gewohnt waren. Es ist keiner zu groß oder zu klein, seinen Teil hierzu beizutragen.

Es ist besser, in Friedenszeiten kleine persönliche Opfer zu bringen, als eines Tages wieder im Krieg Menschenopfer zu beklagen, wie es ja auch jetzt wieder der Fall ist, wo Soldaten im Kampf gegen Terroristen ihr Leben lassen und auch Zivilpersonen betroffen sind, die keine Chance hatten, sich von einem Unrechtssystem zu lösen. Deshalb ist der Volkstrauertag als Tag des Aufrufs zur Verständigung und Versöhnung von so großer Bedeutung. Die Erinnerungen an gemeinsames leid ist für alle eine Chance der Besinnung – eine Chance auch für die jüngere Generation, den einmal eingeschlagenen Weg der Verständigung und der Versöhnung unbeirrt weiterzugehen, auch wenn sich die freie Welt nun gegen terroristische Übergriffe wappnen und wehren muss.

Was nach dem Zeiten Weltkrieg für uns Deutsche durch die Aussöhnung mit Frankreich und anderen westeuropäischen Ländern gelungen ist, müssen wir auch umsetzen bei unseren osteuropäischen Nachbarn. Dies ist keine Aufgabe von Tagen oder Wochen, sondern eine Herausforderung für Generationen. Und mögen die Völker der Welt dieser Versöhnungsarbeit entnehmen, dass wir allen gegenüber zu Frieden und Gerechtigkeit bereit sind, wenn nur die grundlegenden Menschenrechte eingehalten werden und die Bereitschaft da ist, Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen. Niemand soll aber im Unklaren darüber gelassen werden, dass wir bereit sind, für die Verteidigung unserer fundamentalen Grundwerte auch entschiedene Mittel einzusetzen und uns nicht an der Nase herumführen lassen.

Der Friede, den wir seit 56 Jahren hier bei uns haben, darf nicht so selbstverständlich als ein bequemes Geschenk genommen werden. Wir müssen uns täglich dafür einsetzen. Wir müssen wachsam sein und jegliche Ansätze von Gewalt schon im Keim ersticken. Nur wenn wir bei uns selbst beginnen und Verständnis für die Sorgen anderer entwickeln, ihnen bei der Lösung dieser Probleme helfen, können wie eines Tages dauerhaften Frieden für unsere Kinder und Kindeskinder erreichen.

Der Wille zu einer gemeinsamen friedlichen Zukunft der Völker, in die auch die Zukunft unseres ehemals geteilten Landes eingebettet ist, wächst. Er umfasst alle Menschen guten Willens in allen Völkern und Religionen und richtet sich gleichzeitig wehrhaft und entschieden gegen die, die das Zusammenleben der Völker mit falschen Ideologien und unversöhnlichem Hass vergiften. So kann zum Beispiel der Sturz des serbischen Diktators Milosevic als Sieg der Demokratie und des Friedenswillens eines in den letzten Jahren besonders geplagten Volkes gewertet werden. Mögen andere Despoten, Kriegshetzer und Menschenverächter mit ihm den Weg vor die internationalen Gerichte finden!

Gerade am Anfang eines neuen Jahrtausends haben wir an diesem Volkstrauertag 2001 die Hoffnung, die wir brauchen, um verantwortlich für den Frieden arbeiten zu können. Ergreifen wir diese einmalige Chance am Beginn eines neuen Zeitalters und lassen wir uns nicht zurückwerfen in alte Bahnen titanischer Machtkämpfe. Die Opfer aller Gewalt, seien es die der Kriege oder des politischen Machtmissbrauchs, sollten uns stets eine Mahnung sein.

Dann kann wahr werden, was auf dem Soldatenfriedhof in Rosenheim geschrieben steht: „Aus der Nacht unserer Gräber erwachse als Frucht des Opfers der Friede.“

 

Totenehrung

Wir denken heute

an die Opfer von Gewalt und Krieg,

Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken

der Soldaten, die in den Weltkriegen starben,

der Menschen, die durch Kriegshandlungen

oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene

und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer,

die verfolgt und getötet wurden,

weil sie einem anderen Volk angehörten,

einer anderen Rasse zugerechnet wurden

oder deren Leben wegen einer Krankheit oder

Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer,

die ums Leben kamen, weil sie Widerstand

gegen die Gewaltherrschaft geleistet haben,

und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer

Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern

um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege

unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus

und politischer Verfolgung.

Wir gedenken heute auch derer,

die in diesem Jahr bei uns durch Hass und Gewalt

gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind.

Wir trauern

mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen um die Toten.

Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung

auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern,

und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen

zu Hause und in der Welt.