Ansprache zum
Volkstrauertag 2002
gehalten von Propst Peter Godzik
Sehr geehrte Frau Kreispräsidentin! Sehr
geehrter Herr Landrat!
Sehr geehrter
Herr Bürgervorsteher! Sehr geehrter Herr Bürgermeister!
Sehr geehrte
Damen und Herren, liebe Ratzeburger!
Der Zweite Weltkrieg liegt über 50 Jahre
zurück und ist Vergangenheit. Das könnte zu dem Gedanken verleiten,
die Sorge um Kriegsgräber sei unzeitgemäß und nur noch Sache
jener, die in rückwärts gewandter Erinnerung leben.
Doch die Terroranschläge am 11. September
vorigen Jahres in Amerika, der anschließende Krieg gegen das
Talibanregime in Afghanistan, die täglich neue Spirale der Gewalt in
Israel und Palästina sowie die erneuten Terroranschläge in Djerba,
Moskau und auf Bali, haben uns die Realität kriegerischer
Auseinandersetzungen erschreckend nahe gebracht. Unsere Welt ist unsicher wie
eh und je, der Frieden auf dieser Erde ist ständig bedroht.
Darum bleibt es wichtig, die Gräber derer,
die an Gewalt und Unfrieden in zwei Weltkriegen zugrunde gegangen sind, nicht
nur als Orte familiärer Erinnerung zu pflegen. Auch als öffentliche
Mahnmale haben sie einen unaufgebbaren Sinn. Kriegsgräber halten das
Gedächtnis an unsere Geschichte wach und führen uns die unwiderruflichen
Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft vor Augen. Viele einzelne Menschenleben
wurden im Namen pervertierter Ideale vernichtet. Der Krieg hat die Opfer zu
Nummern und Zahlen werden lassen. Aber jedes Kriegsopfer, ob Soldat oder
Zivilist, hat sein unverwechselbares Schicksal, das der Erinnerung würdig
ist. Unsere Trauer braucht einen Ort, an dem sich lebendige Erinnerungen
festmachen können.
Als Christen hoffen wir, dass Gottes Erinnerung
umfassend ist und dass alle Namen in ihr aufgehoben sind. So bleibt die
Hoffnung, dass nicht Tod und Sinnlosigkeit triumphieren. Keine Träne um
einen toten Menschen ist umsonst geweint auf dem weiten und beschwerlichen Weg
zum Frieden.
Unser Blick ist nach vorn gerichtet. Aus dem
Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft und dem Erinnern der
Geschichte unseres Landes erwächst Verantwortung für die Zukunft:
Dies soll nie wieder geschehen! Die Einsicht Gustav Heinemanns, dass der Friede der Ernstfall ist, soll alle
Anstrengungen um die Sicherung und Bewahrung des Friedens lenken.
In diesen Zeiten, in denen uns die kriegerischen
Konflikte der Gegenwart täglich die Zerbrechlichkeit des Friedens vor
Augen führen, brauchen wir Zeichen der Hoffnung. Dazu gehört die
Botschaft der Bibel, dass das Reich Gottes in der Friedensbotschaft Jesu bereits
angebrochen ist. Mit dem Ruf Jesu zur Umkehr verbindet der christliche Glaube
die Zuversicht, dass Menschen es lernen können, ihre Schwerter zu Pflugscharen
umzuschmieden.
Dafür gibt es zahlreich ermutigende
Beispiele, etwa die Arbeit der vielen Freiwilligen der Aktion
Sühnezeichen/ Friedensdienste, von Pax Christi und nicht zuletzt in der
Arbeit des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge selber.
Diese Angebote motivieren eine große
Anzahl von jungen Menschen, sich der Frage nach der Gegenwärtigkeit von
Geschichte im internationalen und interkulturellen Dialog zu stellen. So finden
beispielsweise in jedem Jahr Sommercamps statt, in denen die konkrete Arbeit an
der Instandhaltung von Friedhöfen und Gedenkstätten oder die
Mitwirkung in sozialen Projekten die Vergangenheit unseres Volkes und das
Schicksal anderer Völker hautnah erfahrbar macht. Jährlich melden
sich mehr junge Leute, als die vorhandenen Freiwilligendienste in
längerfristigen Projekten unterbringen können.
Wir haben allen Grund, dankbar zu sein für
alle, die sich in dieser und anderer Weise für das Gedenken an die
Kriegsopfer einsetzen und Schritte auf dem Weg des Friedens gehen. Denn unsere
Trauer ist nicht wertlos oder ohnmächtig. Unser Volkstrauertag ist nicht
nur ein Tag des Erinnerns an vergangenes Unrecht. Er ist zugleich ein Tag des
Nachdenkens über eine gerechte und friedliche Zukunft. Von diesem Tag des
Erinnerns und Nachdenkens geht eine Wirkung aus. Sie soll dazu beitragen, dass
dieses neue Jahrhundert, trotz seines wenig hoffnungsvollen Anfangs, ein
friedvolleres Jahrhundert als das vergangene wird. Dieses Ziel ist den Einsatz
aller Kräfte wert.
Uns Deutschen ist es gelungen, aus den Ruinen
der Weltkriege und über den Gräbern der Gefallenen gemeinsam mit
unseren Nachbarn in Europa eine neue Friedensordnung zu schaffen. Das grenzt an
ein Wunder. Dieses Beispiel macht Mut - auch für die Situation in
Afghanistan, in Palästina und anderswo - und bestätigt die Hoffnung,
dass leidvolle Erfahrung Lernprozesse bewirken kann.
Diese Beispiele, wie auch die bewundernswerte
Hilfsbereitschaft bei vielen Menschen in unserem Land angesichts der
Hochwasserkatastrophe an Elbe und Mulde in diesem Jahr, zeigen, dass es andere
Antworten als Krieg und Gewalt gibt und dass uns diese Antworten den Weg in ein
friedvolleres Jahrhundert weisen können. Wir haben die Chance, weitere
gute Beispiele zu geben. Es liegt an uns, diese Chance zu nutzen.
Dann bleibt „der ewige Frieden zwischen
den Völkern“, wie er einst von Ludwig Börne erträumt
wurde, in Deutschland und in Europa und irgendwann in der Zukunft - so hoffen
wir - auch auf der ganzen Welt kein leeres Trugbild. Lasst uns den Frieden zur
Wirklichkeit machen! Es liegt viel an uns.
Und so denken
wir heute
an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker.
Wir gedenken
der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir gedenken derer,
die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer,
die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen die Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.
Wir trauern
um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung.
Wir gedenken heute auch derer,
die in diesem Jahr bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind.
Wir trauern
mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen um die Toten. Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der Welt.