Rede am Volkstrauertag 2003

gehalten von Propst Peter Godzik

Ich beginne mit einer Geschichte:

1943, vor 60 Jahren also, waren in Amsterdam jüdische Bürger in einen Güterwaggon zum Abtransport eingepfercht worden. Darunter auch eine junge Frau, die im Waggon wahnsinnig vor Angst herumstarrte. Schließlich sah sie ihren Rabbi, stürzte sich nieder, umschlang seine Knie und schrie: „So hilf doch Rabbi, so hilf doch!“

Der Rabbi, selbst vor Angst gelähmt, sprach gütig zu der Frau: „Erinnerst du dich nicht? Erinnere dich doch an das Geheimnis unseres Volkes, an das Geheimnis vom Roten Meer. Wir konnten nicht seitlich am Meer vorbeigehen, wir konnten nicht über das Meer hinübergehen und wir konnten nicht unter dem Meer hindurchgehen. Wir mussten in das Meer hineingehen. Und das Wunder geschah: Die Wasser teilten sich!“ Er legte seine Hand auf ihren Kopf. „Erinnere dich doch und gehe hinein in das Meer und sei gewiss des kommenden Wunders.“ Und das Wunder geschah: Die Frau wurde ruhig aufgrund ihrer Erinnerung und ging gefasst in das Meer hinein.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitbürger Ratzeburgs!

Erinnerung schafft Wunder, so entnehme ich dieser Geschichte. Wahrscheinlich fragen Sie sich, warum ich meine Ansprache zum heutigen Volkstrauertag ausgerechnet mit einer solchen Geschichte beginne: mit der Erinnerung an eine Rettung, an die Rettung aus Not und Gefahr – damals beim Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und Jahrhunderte später bei der Zumutung, in das Meer menschlich zugedachter Vernichtung zu gehen.

Wir erinnern uns heute am Volkstrauertag ja nicht in erster Linie an Errettung, sondern an Zerstörung und Vernichtung, an Vertreibung und millionenfaches Unrecht, an den Tod so vieler Menschen. Ich möchte aber mit dieser Geschichte daran erinnern, dass manche, ja wahrscheinlich viele dieser Menschen damals mit der Erinnerung an eine Hoffnungsgeschichte gestorben sind. Sie wurden wohl getötet, nicht aber ihre Hoffnung.

Wir gedenken heute der Millionen gefallener Soldaten aller Nationen. Wir gedenken derer, die allein ihrer Herkunft wegen ermordet wurden: der Juden, Sinti und Roma, der Homosexuellen und Geisteskranken. Wir gedenken der Männer und Frauen des Widerstandes, der Flüchtlinge und Vertriebenen aller Nationen. Wir gedenken der Toten in über 300 Kriegen seit 1945. Wir gedenken der Opfer des Terrorismus heute.

Bei diesem Gedenken geht es mir darum, dass wir Lebenden auch die Erinnerung dieser Sterbenden erinnern. Viele sind nämlich mit Hoffnungserinnerungen gestorben. Das kann für uns Lebende Vorbild sein.

Verstehen Sie, ich möchte auffordern, dass wir uns der Lebenshoffnung und Hoffnungserinnerung der Ermordeten, Getöteten und Gefallenen erinnern. Das sind wir ihnen schuldig. Unsere Erinnerung soll ihre Lebenshoffnung wieder lebendig werden lassen. So wie wir uns Dietrich Bonhoeffers, Maximilian Kolbes, Graf Stauffenbergs und all der anderen tapferen Menschen erinnern, so sollten wir uns auch der Millionen Ermordeter, Getöteter und Gefallener erinnern. Im Grunde waren auch sie fast alle Widerstandskämpfer, denn sie widerstanden dem Tod, sie gingen hinein in jenes verschlingende Meer, von dem der Rabbi der jungen Frau erzählte, und erlebten auf einer ganz tiefen Ebene, die wir nur mit den Augen des Glaubens sehen können, das Wunder ihrer Errettung. Denn Menschen können einander wohl das leibliche Leben nehmen, aber die Seele der Getöteten ist doch aufgehoben bei Gott. So geschieht es immer wieder, so rettet Gott auch noch durch den Tod hindurch.

Wenn wir den Lebensmut der Ermordeten, Getöteten und Gefallenen erinnern, dann wird unser heutiges Gedenken am Volkstrauertag nicht einfach routiniert und rituell sein, nicht oberflächlich und folgenlos bleiben, sondern gebiert neue Hoffnung: Die Erinnerung an den Rabbi und die junge Frau im Waggon von Amsterdam beschämt und befreit uns zugleich.

Jesus von Nazareth saß vor 2000 Jahren auf einem Berg und sprach die Seligpreisung: „Selig seid ihr Trauernden“, und er fügte hinzu, „denn ihr werdet getröstet werden.“

Wer trauert ist glücklich!? Wirklich? Interessant ist, dass Jesus mit Trauern ein kollektives, gemeinsames Trauern meinte. Er sprach diejenigen an, die über das Unrecht und die Grausamkeit ihres Volkes Israel und Palästina trauerten. Man könnte sagen: Jesus sprach zum Volkstrauertag. Und diesen Trauernden sprach er nun Seligkeit und Trost zu. Wieso? Weil sie ein Gespür für eine bessere Gerechtigkeit hatten; weil sie ein Unrechts- und Rechtsbewusstsein besaßen; weil sie überzeugt waren, dass es keine „gerechten“ Widerstands- und Verteidigungskriege gibt; und weil sie ihre Trauer über das Unrecht ihres Volkes vor Gott brachten.

Sie waren fähig zu kollektiver Trauer. Sie praktizierten das, was der Prediger Salomo schon 300 Jahre vor Christus gesagt hatte: „Durch Trauern wird das Herz gebessert.“ Deshalb nannte Jesus sie selig und sprach ihnen Tröstung zu.

Vor 40 Jahren noch bescheinigte Alexander Mitscherlich den Deutschen die „Unfähigkeit zu trauern“. Wir seien Weltmeister im Verdrängen von Schuld. Seit dieser Zeit hat sich meines Erachtens vieles geändert. Wir haben inzwischen gelernt, nicht bloß passiv, sondern auch aktiv zu trauern. Die vielen Gedenkstätten in unserem Lande mit ihren eindrucksvollen Dokumentationen sind ein beredtes Zeugnis dafür. Es ist keine ohnmächtige, sondern eine durchaus machtvolle und wirksame Trauer. Sie lähmt nicht, sondern sie spornt zum verantwortlichen Friedensstiften an. Alexander Mitscherlich würde seine Klage von 1962 heute, 40 Jahre danach, sicherlich so nicht wiederholen. Seine Klage hat ja auch Wirkung gezeigt. Viele Deutsche sind heute wirklich fähig, gemeinsam zu trauern und Schritte des Friedens zu gehen.

Trauer, die aus Erinnerung an schreckliche Zeiten resultiert, sollte in Mahnung zum Frieden und zur Versöhnung übergehen. Das Wort „Mahnung“ hat zwar einen negativen Beigeschmack und riecht nach moralischem, besserwisserischem Zeigefinger. Ich verstehe Mahnung aber anders. Eine chassidische Geschichte bringt das zum Ausdruck:

Ein Rabbi fragte seine Schüler: „Wann beginnt der Tag?“ Etwas gequält schauten sich die Schüler an. „Na ja, wenn die Dunkelheit weicht“; „wenn die Sonne aufgeht“, „wenn der Mond verschwindet“, „wenn der Morgentau reift“, lauteten ihre Antworten. „Nein“, antwortete der Rabbi, „der Tag fängt erst richtig an, wenn jeder in den Gesichtern seiner Mitmenschen Bruder und Schwester erkennt“.

Dieser Rabbi mahnte nicht mit erhobenem Zeigefinger zur Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit; sondern er trug dieses Bildwort vor: Nur wenn ich in meinen Mitmenschen, so meinte er, Brüder und Schwestern entdecke, d.h. wenn ich entdecke, dass sie Menschen sind wie ich, kann ich auf Gewalt verzichten, Krieg als Mittel der Politik ächten, Zivilcourage für Entrechtete entwickeln und Toleranz gegen das Fremde üben.

Freilich: Angesichts von Terrorismus und Gewalt fragen wir uns manchmal: Ist das überhaupt möglich, in allen und jedem Mitmenschen Geschwister zu entdecken? Wohl kaum! Damit das aber trotzdem möglich wird, müssen wir in den Menschen zwischen geschöpflicher Person und situativer Tat unterscheiden.

In der geschöpflichen Person erkenne ich Bruder und Schwester, nicht in der jeweiligen Tat. Die Person ist wie ich, nicht aber die einzelne Tat. Martin Buber sagte deshalb ausdrücklich: Liebe deinen Nächsten als geschöpfliche Person; er ist wie Du, eine Person!

Das heißt konkret politisch: Wir sollten zwischen böser Tat und geschöpflicher Person unterscheiden. Noch konkreter: Wir müssen unbedingt den Rassismus ächten, aber nicht die Menschen verachten, die ihn törichterweise vertreten. Wir müssen den Terrorismus bekämpfen, aber rechtsstaatlich und menschlich mit Terroristen umgehen. Wir müssen Fanatismus überwinden, dürfen aber Fanatiker nicht gleich mit vernichten wollen. Wir müssen wohl auch bestimmte Verbrechen der Wehrmacht anprangern, nicht aber alle Wehrmachtssoldaten als geschöpfliche Personen durch unser Urteil verachten. Das ist ein Balanceakt, der aber gerade in unserem Rechtsstaat möglich ist. Die Würde jedes Menschen als geschöpfliche Person ist unantastbar, heißt es in unserem Grundgesetz.

Gemeinsames Erinnern kann Schuldeingeständnis, Scham und Befreiung bewirken. Gemeinsames Trauern kann in den Kampf für eine bessere Gerechtigkeit einmünden. Und gemeinsames Mahnen kann zum Respekt vor der Geschöpflichkeit und Würde jeder Person führen.

Erinnern, Trauern, Mahnen. Tun wir alles, damit diese Möglichkeit Wirklichkeit wird.

 

Und nun wollen wir der Toten gedenken:

 

Wir denken heute

an die Opfer von Gewalt und Krieg,

Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

 

Wir gedenken

der Soldaten, die in den Weltkriegen starben,

der Menschen, die durch Kriegshandlungen

oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene

und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

 

Wir gedenken derer,

die verfolgt und getötet wurden,

weil sie einem anderen Volk angehörten,

einer anderen Rasse zugerechnet wurden

oder deren Leben wegen einer Krankheit oder

Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

 

Wir gedenken derer,

die ums Leben kamen, weil sie Widerstand

gegen die Gewaltherrschaft geleistet haben,

und derer, die den Tod fanden, weil sie an

ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben

festhielten.

 

Wir trauern

um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege

unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus

und politischer Verfolgung.

 

Wir gedenken heute auch derer,

die in diesem Jahr bei uns durch Hass und

Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer

geworden sind.

 

Wir trauern

mit den Müttern und mit allen, die Leid

tragen um die Toten. Aber unser Leben steht

im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung

unter den Menschen und Völkern, und

unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter

den Menschen zu Hause und in der Welt.