Ansprache zum Volkstrauertag 2006

gehalten von Propst Peter Godzik

Liebe Anwesende!

Der Volkstrauertag ist einer unserer stillen Feiertage, ein Tag des Innehaltens, der Einkehr: Wir gedenken der Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft. Dieser Tag stört unsere oberflächliche Geschäftigkeit, und schnell stellt sich die Frage, ob er noch in unsere Zeit passt. Brauchen wir diesen Gedenktag noch? Der Zweite Weltkrieg liegt doch bereits über 60 Jahre zurück. Wie viele Menschen können sich denn noch an diese Zeit erinnern? Wer hat denn noch die Toten gekannt, deren Verlust wir an diesem Tag beklagen?

Es gehört nicht viel dazu, nach einem Schlussstrich unter der Erinnerung zu rufen. Doch das ist allzu leichtfertig. Auch zwei Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg haben noch nicht alle Gefallenen ein würdiges Grab und über eine Million Schicksale sind immer noch nicht aufgeklärt. Töchter, Söhne, Ehefrauen oder Geschwister von Vermissten bemühen sich bis heute um Gewissheit über deren Verbleib.

Manche begeben sich selbst auf die Suche nach dem Grab oder nach den letzten Lebensstationen ihres Angehörigen, eines Menschen den sie kaum kannten, der ihnen jedoch ein Leben lang gefehlt hat. Sie nähern sich Schritt für Schritt seinen Spuren und schließen eine Lücke in ihrer eigenen Lebensgeschichte.

Trauer braucht einen Ort. Das ist einer der Gründe, warum der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge diesen Menschen hilft und bis heute nach den Kriegstoten sucht, über 800 Friedhöfe in 45 Staaten angelegt hat und sie auf Dauer erhält. Der Volksbund lässt die Angehörigen mit ihrem Verlust nicht allein, er versucht, ihnen Gewissheit über das Schicksal ihrer Gefallenen zu geben und den kommenden Generationen die Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft aufzuzeigen.

Am Volkstrauertag bekennen wir uns ausdrücklich zur Solidarität mit diesen Menschen und allen anderen, die um einen durch den Krieg umgekommenen Menschen trauern. Wir bekennen uns auch zu den Toten, die der Krieg gefordert hat. Wir sind mit diesen Menschen verkettet. Ob wir sie gekannt haben oder nicht. Ob wir mit ihnen verwandt sind oder nicht. Die toten Soldaten und alle zivilen Opfer des Krieges sind Bestandteil der deutschen Geschichte und gehören zu unseren Wurzeln.

Das Schicksal der Kriegstoten mahnt uns, die aktuellen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Probleme auf friedliche Weise zu lösen. Damit geben wir dem Sterben der Menschen, derer wir gedenken, einen zusätzlichen, versöhnlichen Sinn. Die Erinnerung an das Leid der Kriege weckt die Sehnsucht nach Versöhnung und Frieden. Darin liegt neben dem Gedenken an die Toten die stets aktuelle Bedeutung des Volkstrauertages. Denn: Wer über einen Soldatenfriedhof geht, der begreift, dass nichts wichtiger ist als das friedliche Zusammenleben der Menschen.

Als vor 17 Jahren viele Menschen vom Osten unseres Landes in den Westen flüchteten, schrieb jemand in das Fürbittenbuch der Nikolaikirche in Leipzig: „Jeder, der geht, nimmt ein Licht mit. Allmählich wird es dunkel.“

Wieviel Verzweiflung und Sorge aus solchen Worten sprechen, können wir wohl erahnen. Und es fällt uns auch nicht schwer, diese Wahrheit auf unseren heutigen Gedenktag zu übertragen, wenn wir uns dankbar und in guter und ehrenvoller Absicht der Opfer der Kriege, des Terrors und gewalttätiger Willkür erinnern.

Junge Männer sind fortgezogen und nicht mehr heimgekommen; andere sind wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugung in den Lagern konzentrierten Grauens getötet worden; in den Gefangenenlagern, auf der Flucht oder bei schrecklichen Bombenangriffen haben sie ihr Leben verloren. Und es ist dunkel geworden im Leben ihrer Familien, im Kreis ihrer Freunde, auch im Leben unserer Gemeinden. Und heute noch gibt es genug Menschen, die an der Dunkelheit des Schmerzes von damals zu leiden haben.

Mit all den Gefallenen von damals wurde so viel mitbegraben: die Unerschütterlichkeit einer ersten Liebe; das Ringen um eine gute und sichere Zukunft; die Unbeschwertheit der Jugend; auch ein gewisses Maß an Unverständnis und Streit, das es in jedem Leben unvermeidbar gibt; das Sorgen umeinander und füreinander; unverbrüchliche Freundschaft; versprochener Beistand und Weggemeinschaft in guten und schweren Zeiten, Verlässlichkeit, Lebensmut und Einsatzbereitschaft ... und vieles mehr, was zu all den Gefallenen der ganzen Welt gehört hat. Das alles ist mit ihnen ins Grab gelegt worden.

In dieser Stunde erinnern wir uns an sie. Manches Gesicht – falls uns das aufgrund unseres eigenen Alters überhaupt noch möglich ist – wird vor unseren Augen wieder lebendig. Ob wir sie gekannt haben oder nicht, wir müssen uns von ihnen anschauen lassen. Und es werden fragende Blicke sein. Umso mehr wünsche ich mir, dass wir alle uns, besonders aber die jetzt Verantwortlichen in der Politik, von diesen fragenden Blicken treffen lassen:

Mein Verdursten in der Gluthitze Afrikas – hat das nicht gereicht? Mein Erfrieren in der Eiswüste Russlands – ist es nicht Mahnung genug? Mein Ertrinken vor Kreta – ist es wirklich schon vergessen? Muss denn immer wieder alles von vorne beginnen? Haben die Menschen, die von 1914 bis 1918 und dann von 1939 bis 1945 weltweit geplagt und davor und dazwischen und danach bis zur Stunde vielerorts von Krieg und Bürgerkrieg, Terror und Hass gepeinigt wurden, wirklich nichts dazugelernt?

„Jeder, der geht, nimmt ein Licht mit. Allmählich wird es dunkel.“ Von 1914 bis 1918 gingen so weltweit sieben Millionen Lichter aus; in den sechs Jahren des Zweiten Weltkrieges waren es weitere 55 Millionen und seither in ungezählten Auseinandersetzungen wieder 40 Millionen Menschenleben, die geopfert wurden. Ist es noch nicht dunkel genug geworden in dieser Welt?

Jedes dieser erloschenen Lichter und Menschenleben mahnt uns zu großer Hochachtung vor dem Leben. Es lässt uns wissen, was allein uns in Frieden und Sicherheit und Freiheit leben lässt: Es ist nicht der Ruhm, mit dem sich ein Mensch überhäuft hat; es sind nicht die Monumente, die einer hinterlassen hat; es sind nicht die Weltreiche, die einer gegründet und ein anderer wieder zerstört hat – das alles weckt höchstens Bewunderung oder Abscheu!

Das einzige, das uns voller Hochachtung aufeinander schauen lässt und das uns auf den Weg in eine friedvolle Zukunft bringen kann, ist das Wissen: Jeder Mensch, ob lebendig oder bereits begraben, ist geliebt worden und hat geliebt, wird geliebt und verschenkt Liebe. Und das bleibt – auch für die Ewigkeit.

Und gerade der Besuch, den wir heute im Geist und im Herzen den Millionen Kriegsgräbern überall auf der Welt abstatten, fordert uns heraus, auch unser eigenes Leben anzunehmen als ein Geschenk der Liebe, über das der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern Gott. „Jeder, der geht, nimmt ein Licht mit“, so heißt es zwar im Fürbittenbuch der Leipziger Nikolaikirche. Das ist wahr, aber als Christen dürfen wir glauben, dass dieses Licht nicht im Dunkel des Grabes erlischt, sondern in Gottes Herrlichkeit erst seinen ganz besonderen Glanz erhält.

Jesus sagt von sich: Ich bin das Licht der Welt. Dass unsere Gefallenen und Getöteten und Verstorbenen an diesem Licht Anteil haben, das dürfen wir annehmen und fest glauben. Denn das Licht, das Christus verbreitet, brennt nicht umsonst; es brennt nicht für sich. Auf einzigartige Weise hat er sich verzehrt, um anderen Licht und Hoffnung, Freude und Zukunft zu schenken. Ausgespannt am Holz des Kreuzes hängt das Licht der Welt im Schatten des Todes. Aber sein Licht verzehrt sich, um Licht einer Kerze im Dunkel der Nacht zu sein. Mag dieses Licht auch noch so klein sein - es ist heller als alle Dunkelheit; es ist wärmer als alle Kälte; es ist herzlicher als aller Hass; es ist lebendiger als alles Tote. Christus ist stärker als der Tod.

Und so leuchtet sein Licht in den Augen und Herzen vieler Menschen weiter bis zum heutigen Tag. Gott selbst schenke es uns, dass dies so bleibt. Und wenn er uns dazu brauchen kann, dass diese Hoffnung auch in die kommenden Generationen hinein weiter getragen wird, dann lassen wir uns doch bereitwillig dazu brauchen!