Ansprache zum Volkstrauertag 2007

gehalten von Propst Peter Godzik

 

Liebe Anwesende!

Der Volkstrauertag ist sicher einer der bedeutendsten Gedenktage in Deutschland – und einer, der am meisten unsere meist oberflächliche Geschäftigkeit stört.

Wir wenden an diesem Tag unsere Gedanken zurück, vergewissern uns der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und gedenken der Opfer, die Kriege und Gewaltherrschaft forderten.

Auch andere Nationen pflegen ihre Erinnerungstage. Während unsere Nachbarn jedoch überwiegend ihren Sieg oder ihre Befreiung feiern, ist die Erinnerung der Deutschen anders geprägt. Trauer, Verlust, Niederlage, Schuld und Verantwortung sind die Begriffe, die das öffentliche Gedenken bestimmen. Aber auch die Hoffnung, dass die Menschen aus der Geschichte lernen, damit sie sich nicht wiederholt.

Wir leben in einer Übergangszeit. Mit zunehmendem Zeitabstand zum Zweiten Weltkrieg schwindet die unmittelbare Erfahrung. Die Gedenkarbeit fällt in die Hände der Nachgeborenen. Töchter, Söhne, Nichten, Neffen und Enkelkinder erinnern sich der Gefallenen oder Vermissten in der Verwandtschaft und nehmen den Verlust eines Menschen, den sie kaum oder gar nicht kannten, als Lücke in der eigenen Lebensgeschichte wahr. Sie studieren Familiendokumente und versuchen, letzte Lebenszeichen eines Menschen zu ergründen, der vor über sechzig Jahren starb.

Um etwas mehr über sein Schicksal zu erfahren oder gar an sein Grab treten zu können, nehmen sie weite Reisen auf sich und knüpfen Kontakte zu allen möglichen Einrichtungen, die ihnen weiterhelfen könnten.

In den meisten Fällen kann der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge helfen. Er betreut etwa zwei Millionen Gräber in 45 Staaten und kann Auskunft über mehr als vier Millionen Verlustmeldungen geben. In Osteuropa wurden in den vergangenen 15 Jahren die Gebeine von rund 500.000 deutschen Soldaten gefunden und auf neu errichtete Friedhöfe umgebettet. Viele Schicksale wurden durch diese Arbeit geklärt, viele Familienangehörige erhielten endlich Gewissheit, und Hunderttausende besuchten die Kriegs­gräberstätten.

Das Gedenken am Volkstrauertag kommt freilich nicht ohne die Erinnerung an den Nationalsozialismus aus. Dieses Regime und die Menschenleben, die es forderte, sind Bestandteil der deutschen Geschichte. Der aufrichtige Umgang mit unserer Vergangenheit setzt voraus, dass wir aller Opfer gedenken, die durch Vernichtungskrieg und Völkermord, durch die Bombenangriffe, während der Flucht oder Kriegsgefangenschaft ums Leben kamen. Das Schicksal dieser Menschen ist uns allen eine Mahnung zum Frieden. Der Volkstrauertag ist kein veraltetes Ritual, sondern ein wichtiger Gedenktag, an dem wir uns auch auf unsere nationale Identität besinnen.

Wie es für jeden Einzelnen Zeiten des Schmerzes und der Trauer über den Verlust von geliebten Menschen gibt, so ist es auch unerlässlich, dass Völker und Nationen Raum für kollektive Formen von Trauer und Gedenken schaffen. Angeregt vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist der Volkstrauertag schon seit 1919 zu einem solch zentralen nationalen Gedenktag für die Toten von Krieg und Gewaltherrschaft geworden. Denn die glücklicherweise nun schon lange andauernde Friedenszeit in Deutschland darf nicht darüber hinwegtäuschen, welch großen Schmerz und welche tiefen seelischen Verwundungen die beiden großen Kriege des letzten Jahrhunderts über die Menschen gebracht hatten. Die Erinnerung an Leid, Schmerz und Verlust mahnt uns zu dem Bemühen, diese hässlichsten Seiten des menschlichen Umgangs miteinander - oder eher gegeneinander mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften nicht wieder aufkeimen zu lassen.

Der Volkstrauertag spiegelt einen wichtigen Aspekt des Menschseins wider. Nur Menschen, diese nach dem Ebenbild Gottes gestalteten Geschöpfe, sind in der Lage, Schuld und Fehler ihrer Vergangenheit in Erinnerung zu rufen und daraus lernen zu wollen. Es gehört zur menschlichen Befähigung, dies auch gemeinschaftlich zu tun: sich gemeinsam der vergangenen schmerzhaften Ereignisse zu erinnern und sich bewusst zu machen, dass es vor allem die Toten sind, die uns zum Frieden mahnen.

„Der Friede, den wir nicht machen können, ist die Vorbedingung für den Frieden, den wir machen müssen.“ So hat es Carl Friedrich von Weizsäcker einmal formuliert. Diese fundamentale Einsicht haben Schülerinnen und Schüler der Dannewerk Realschule in Schleswig in folgende Worte gekleidet:


Frieden ist ein Geschenk Gottes,

aber er kommt nicht schön verpackt

vom Himmel gefallen.

Man kann ihn auch nicht mit noch so

viel Geld kaufen.

Auch im Lotto kann man ihn nicht

gewinnen.

Er ist nicht wie ein Schatz

irgendwo auf der Welt vergraben.

Frieden ist ein Geschenk,

ein Geschenk in uns.

Wir müssen ihn in uns finden,

ihn herauslassen,

unseren Egoismus überwinden,

den Frieden verbreiten.

Für den Frieden müssen wir alle etwas tun,

er ist nicht nur Sache der Politik.

Wir alle können etwas für den Frieden tun,

den Menschen zeigen, wie man in Frieden

zusammenleben, eine neue Welt

schaffen kann.

Wir können Frieden schaffen,

indem wir Menschen dieser Welt

miteinander zuhören,

Freude und Kummer teilen,

uns gegenseitig helfen,

uns die Hände reichen!

Frieden ist wie eine Blume.

Die Saat dazu liegt im Boden,

aber sie kann nur wachsen,

wenn der Boden gut ist,

die Sonne für warmes Klima sorgt,

Regen den Boden feucht hält,

kein zu starker Wind sie abknickt.

Sie kann sich nur vermehren,

wenn es um sie herum noch

viele gedeihende Blumen gibt.

Frieden ist wie eine Blume.

Die Saat dazu liegt im Menschen,

aber Frieden kann nur wachsen,

wenn wir das Gute in uns wirken lassen,

wenn wir für Wärme im Miteinander

der Menschen sorgen, wenn wir friedlich

mit anderen umgehen,

anderen helfen und uns helfen lassen,

miteinander sprechen,

andere ausreden lassen, wenn wir ihnen

zuhören, ihre Meinung akzeptieren,

wenn wir aufeinander zugehen,

keinen Menschen ausgrenzen,

keinen Menschen den Mut nehmen.

Frieden kann es in der Welt geben,

wenn viele Menschen so

mit anderen umgehen.

Wir wollen damit anfangen!


 

Wir denken heute

an die Opfer von Gewalt und Krieg,

an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

 

Wir gedenken

der Soldaten, die in den Weltkriegen

starben,

der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft,

als Vertriebene und Flüchtlinge

ihr Leben verloren.

 

Wir gedenken derer,

die verfolgt und getötet wurden,

weil sie einem anderen Volk angehörten,

einer anderen Rasse zugerechnet wurden

oder deren Leben wegen einer Krankheit

oder Behinderung als lebensunwert

bezeichnet wurde.

 

Wir gedenken derer,

die ums Leben kamen, weil sie Widerstand

gegen Gewaltherrschaft geleistet haben,

und derer, die den Tod fanden, weil sie an

ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben

festhielten.

Wir trauern

um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege

unserer Tage, um die Opfer von

Terrorismus und politischer Verfolgung,

um die Bundeswehrsoldaten und

anderen Einsatzkräfte,

die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.

 

Wir gedenken heute auch derer,

die bei uns durch Hass und Gewalt gegen

Fremde und Schwache Opfer geworden

sind.

 

Wir trauern

mit den Müttern und mit allen,

die Leid tragen um die Toten.

Aber unser Leben steht im Zeichen der

Hoffnung auf Versöhnung unter den

Menschen und Völkern,

und unsere Verantwortung

gilt dem Frieden unter den

Menschen zu Hause und in der Welt.