Wort zum Sonntag (09.04.2000)

Göttliche Kraft

Als das Volk Israel durch die Wüste zieht, bekommt es auch mit feurigen Schlangen zu tun. Mose bittet für das Volk und richtet eine eherne Schlange auf, damit die Menschen am Leben bleiben (4. Buch Mose, Kapitel 21, Vers 4-9).
Schlangen vergiften und heilen, sie bringen Tod und Leben. Man denkt bei dieser Geschichte unwillkürlich an das Symbol der ärztlichen Kunst, den Äskulapstab. Man denkt an die homöopathische Medizin, in der Gleiches durch Gleiches, Gift durch Gift bekämpft wird. Losgelassen und in freier Bahn bringen Schlangen den Tod. Werden sie aber aus ihrem natürlichen Element entfernt, in die Höhe gehoben und beherrscht, so bringen sie Leben. Welche Schlangen, Versuchungen, (Sehn-)Süchte müssen wir emporheben und verwandeln, um geheilt zu werden?
Wir haben auch unsere Wüsten, die nicht enden wollen: Lebenswüsten. Seelische, gesundheitliche, menschliche Wüsten. Sackgassen, Irrwege, Durststrecken der kaputten Beziehung, der Untätigkeit, der Sinnlosigkeit. Und dann reicht es uns. Wir haben keine Lust mehr. Wir glauben, nicht mehr zu können. Wir träumen davon, mit einem Schlag den Knoten zu durchschlagen. Aber meistens gibt es keine einfache Lösung. Oft haben wir keine andere Wahl, als den eingeschlagenen Weg weiterzugehen - in der Hoffnung, doch noch zu lernen, doch noch verwandeln und in die Höhe geläuterten Bewußtseins bringen zu können.
Die Schlangen bleiben: Die Fragen, die Zweifel, die Widersprüche, lassen sich nicht einfach abstellen. Aber durch inneren Kampf und Auseinandersetzung kann die Seele wachsen. Wenn wir uns nicht mehr von den lebendigen Schlangen fixieren ließen, wenn wir den Blick von ihnen lösen und aufblicken könnten - in die Höhe, zu der erledigten, leblosen Schlange, dem kupfernen Abbild überwundener Versuchung, zu göttlicher Kraft, die unser Leben will, unsere Freiheit und unser Wohlergehen!
Jesus wurde versucht und angefochten wie andere Menschen auch, aber er gab nicht nach. Ein zutiefst menschlicher Mensch mit einer ungewöhnlichen Kraft, die Verbindung nach oben nicht abreißen zu lassen. Jesus: hoch aufgerichtet am Kreuz - Sinnbild der Überwindung alles Bösen und Lieblosen. Am Kreuz können wir erblicken, was - uns zum Heil - längst besiegt und überwunden ist.

Propst Peter Godzik, Ratzeburg