Göttliche Kraft
Als das Volk Israel durch die Wüste
zieht, bekommt es auch mit feurigen Schlangen zu tun. Mose bittet für
das Volk und richtet eine eherne Schlange auf, damit die Menschen am Leben
bleiben (4. Buch Mose, Kapitel 21, Vers 4-9).
Schlangen vergiften und heilen, sie bringen
Tod und Leben. Man denkt bei dieser Geschichte unwillkürlich an das
Symbol der ärztlichen Kunst, den Äskulapstab. Man denkt an die
homöopathische Medizin, in der Gleiches durch Gleiches, Gift durch
Gift bekämpft wird. Losgelassen und in freier Bahn bringen Schlangen
den Tod. Werden sie aber aus ihrem natürlichen Element entfernt, in
die Höhe gehoben und beherrscht, so bringen sie Leben. Welche Schlangen,
Versuchungen, (Sehn-)Süchte müssen wir emporheben und verwandeln,
um geheilt zu werden?
Wir haben auch unsere Wüsten, die
nicht enden wollen: Lebenswüsten. Seelische, gesundheitliche, menschliche
Wüsten. Sackgassen, Irrwege, Durststrecken der kaputten Beziehung,
der Untätigkeit, der Sinnlosigkeit. Und dann reicht es uns. Wir haben
keine Lust mehr. Wir glauben, nicht mehr zu können. Wir träumen
davon, mit einem Schlag den Knoten zu durchschlagen. Aber meistens gibt
es keine einfache Lösung. Oft haben wir keine andere Wahl, als den
eingeschlagenen Weg weiterzugehen - in der Hoffnung, doch noch zu lernen,
doch noch verwandeln und in die Höhe geläuterten Bewußtseins
bringen zu können.
Die Schlangen bleiben: Die Fragen, die
Zweifel, die Widersprüche, lassen sich nicht einfach abstellen. Aber
durch inneren Kampf und Auseinandersetzung kann die Seele wachsen. Wenn
wir uns nicht mehr von den lebendigen Schlangen fixieren ließen,
wenn wir den Blick von ihnen lösen und aufblicken könnten - in
die Höhe, zu der erledigten, leblosen Schlange, dem kupfernen Abbild
überwundener Versuchung, zu göttlicher Kraft, die unser Leben
will, unsere Freiheit und unser Wohlergehen!
Jesus wurde versucht und angefochten wie
andere Menschen auch, aber er gab nicht nach. Ein zutiefst menschlicher
Mensch mit einer ungewöhnlichen Kraft, die Verbindung nach oben nicht
abreißen zu lassen. Jesus: hoch aufgerichtet am Kreuz - Sinnbild
der Überwindung alles Bösen und Lieblosen. Am Kreuz können
wir erblicken, was - uns zum Heil - längst besiegt und überwunden
ist.
Propst Peter Godzik, Ratzeburg