Unter Druck gesetzt
Als Christen setzen wir uns selbst oder
andere manchmal ganz schön unter Druck: "Ohne Umweltschutz nur ein
halber Christ!" stand neulich in der Zeitung. Das war sicher nicht negativ
gemeint, aber hinter einem solchen Satz steht eben doch die Frage, wer
ein ganzer, wer ein guter Christ ist.
Da hat jemand zu wenig Zeit für einen
anderen Menschen, der im Altenheim oder im Krankenhaus auf Besuch wartet.
Als Christ müßte man eigentlich ... Oder da steht ein junger
Mensch vor der Frage, ob er als Christ den Wehrdienst verweigern soll oder
nicht. Als Christ kann man doch nur ... Oder da ist ein Mensch unermüdlich
für andere da und überfordert sich dabei. Als Christ sollte man
aber ... Wir legen anderen oder uns selber oft Verhaltensmaßregeln
auf, und das schlechte Gewissen hängt als ständige Drohung über
uns. "Werke des Gesetzes" hat der Apostel Paulus (Galaterbrief 2,16-21)
das genannt.
Er setzt dagegen: Die Liebe Gottes läßt
sich nicht erarbeiten und nicht verdienen. Gottes Liebe ist das Wichtigste
im Leben. Sie schafft Freiheit und sie ist ein Geschenk. Martin Luther
hat das später für sich und für seine Zeit wieder entdeckt.
Und seitdem gehört dieses Wissen zum Grundbestand evangelischen Glaubens.
Bewahrt uns dieses Grundwissen davor, immer wieder neue Gesetze aufzustellen
und das Christsein daran zu messen?
Wer zu einem anderen sagt: "So und nicht
anders mußt du dich verhalten", der macht sich zum Herrn eines angeblich
erziehungsbedürftigen Menschen, zu einem "Gesetzgeber", der beim anderen
freisetzen will, was noch nicht richtig entwickelt ist. Und auch wer sich
selbst unter Druck setzt, wer mit sich selber schonungslos umgeht und darüber
verbittert wird, verfügt über sich selbst. Er formt sich so,
wie ihn Gott gerade nicht haben will.
Es kommt nicht darauf an, wie wir uns
vor Gott darstellen, sondern wie wir vor ihm dastehen (Lukasevangelium
18,9-14). Das letzte Urteil über mein Leben kommt nicht von mir selber.
Ich bin bei meiner Beurteilung auf die Sichtweise Gottes angewiesen. Und
wer zugibt, daß er darauf angewiesen ist, der gibt Gott Raum, der
läßt Gott zu sich kommen, der glaubt. Und wer glaubt, der steht
vor Gott recht da.
Deshalb müssen wir die Erinnerung
wachhalten an ein Leben in Freiheit. Wir sehen uns mit anderen Augen, wenn
wir die Liebe Jesu zu uns erfahren. Wir leben unser Leben anders, wenn
wir statt schriftgelehrter Richtigkeiten die geöffneten Arme des Gekreuzigten
sehen. Wir leben unser Leben in Freiheit, weil wir keine Angst haben müssen
um das Gelingen unseres Lebens, denn wir sind geliebt. Wir leben unser
Leben ohne die Lust, andere unter ein Gesetz zu beugen. Wir leben unser
Leben ohne Angst davor, mißachtet zu werden. Wir sind Gott recht.
Propst Peter Godzik, Ratzeburg