Leiden, die nicht ins Gewicht fallen?
An diesem Sonntag, dem Volkstrauertag,
denken wir an die Opfer von Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und
Männer aller Völker. Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen
starben, der Menschen die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft,
als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren. Wir gedenken derer,
die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten,
einer anderen "Rasse" zugerechnet wurden, oder deren Leben wegen einer
Krankheit oder Behinderung als "lebensunwert" bezeichnet wurde. Wir gedenken
derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand leisteten und derer, die
den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben festhielten.
In dem Schmerz über vergangenes und
gegenwärtiges Unrecht an Leben und Unversehrtheit der Menschen begegnet
uns ein unerhörtes Wort des Apostels Paulus: "Ich bin überzeugt,
daß die Leiden dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber
der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll" (Römer 8,18).
Gehört Paulus auch zu den "Wegsehern" und "Wegdenkern", die an die
Vergangenheit nicht mehr so gern erinnert werden möchten?
Nein, er kennt das tiefe Leiden und ängstliche
Harren der Kreatur. Er weiß, daß die ganze Schöpfung bis
zu diesem Augenblick mit uns Menschen seufzt und sich ängstigt. Aber
er möchte nicht, daß wir in der Finsternis und in den Schatten
des Todes versinken. Er richtet unseren Blick auf das Warten und Hoffen
der Menschen. Im geduldigen Hoffen und Warten zeigt sich die Kraft einer
neuen Existenz.
Damit fängt es an, daß Menschen
anderes für möglich halten und dann hingehen und sich einbringen
und einmischen. Manchmal gelingt es, die Verhältnisse so zu ändern,
daß niemand zum Helden werden muß. Manchmal bleibt nichts anderes
übrig, als einen Opfergang zu gehen, um Menschlichkeit zu bewahren.
Am Ende kommt es nicht darauf an, das eigene Leben um jeden Preis durchzubringen,
sondern sich nicht abbringen zu lassen von unseren tiefsten Überzeugungen.
Und dann gibt es eine Verheißung, die stärker ist als Folter
und Tod.
Solche Gedanken hat Paulus zu denken gewagt
und sie ausgesprochen. Nicht, weil er das Leiden nicht wichtig genug genommen
hätte, sondern weil er davon überzeugt war, daß es eine
stärkere Kraft gibt als Sünde, Tod und Teufel. Sie trumpft nicht
auf, sondern gibt sich hin und verwandelt alle, die ihr begegnen. Es ist
die Liebe, die sich nicht unterkriegen läßt. Wie jenes Bekenntnis
in die Gewehrläufe des Erschießungskommandos im Warschauer Ghetto:
"Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einziger Gott ..." Solcher
Glaube, solche Hoffnung läßt sich nicht erschießen. Unsere
Trauer um all die Toten wird davon gehalten.
Propst Peter Godzik, Ratzeburg