Wort zum Sonntag 15./16.11.1998 für die LN
 

Leiden, die nicht ins Gewicht fallen?

An diesem Sonntag, dem Volkstrauertag, denken wir an die Opfer von  Gewalt und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker. Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren. Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen "Rasse" zugerechnet wurden, oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als "lebensunwert" bezeichnet wurde. Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand leisteten und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben festhielten.
In dem Schmerz über vergangenes und gegenwärtiges Unrecht an Leben und Unversehrtheit der Menschen begegnet uns ein unerhörtes Wort des Apostels Paulus: "Ich bin überzeugt, daß die Leiden dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll" (Römer 8,18). Gehört Paulus auch zu den "Wegsehern" und "Wegdenkern", die an die Vergangenheit nicht mehr so gern erinnert werden möchten?
Nein, er kennt das tiefe Leiden und ängstliche Harren der Kreatur. Er weiß, daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns Menschen seufzt und sich ängstigt. Aber er möchte nicht, daß wir in der Finsternis und in den Schatten des Todes versinken. Er richtet unseren Blick auf das Warten und Hoffen der Menschen. Im geduldigen Hoffen und Warten zeigt sich die Kraft einer neuen Existenz.
Damit fängt es an, daß Menschen anderes für möglich halten und dann hingehen und sich einbringen und einmischen. Manchmal gelingt es, die Verhältnisse so zu ändern, daß niemand zum Helden werden muß. Manchmal bleibt nichts anderes übrig, als einen Opfergang zu gehen, um Menschlichkeit zu bewahren. Am Ende kommt es nicht darauf an, das eigene Leben um jeden Preis durchzubringen, sondern sich nicht abbringen zu lassen von unseren tiefsten Überzeugungen. Und dann gibt es eine Verheißung, die stärker ist als Folter und Tod.
Solche Gedanken hat Paulus zu denken gewagt und sie ausgesprochen. Nicht, weil er das Leiden nicht wichtig genug genommen hätte, sondern weil er davon überzeugt war, daß es eine stärkere Kraft gibt als Sünde, Tod und Teufel. Sie trumpft nicht auf, sondern gibt sich hin und verwandelt alle, die ihr begegnen. Es ist die Liebe, die sich nicht unterkriegen läßt. Wie jenes Bekenntnis in die Gewehrläufe des Erschießungskommandos im Warschauer Ghetto: "Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einziger Gott ..." Solcher Glaube, solche Hoffnung läßt sich nicht erschießen. Unsere Trauer um all die Toten wird davon gehalten.

Propst Peter Godzik, Ratzeburg