Vergeben

Das Vaterunser enthält den wichtigen Satz: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern." Die Bedeutung der Vergebung wird uns im Jahr 2000 besonders bewusst. Wir haben Abschied genommen von einem Jahrhundert voller Krieg und Vertreibung, voller Grausamkeit und Verletzung von Menschenrechten. Die Wunden schmerzen noch immer, die Menschen sich gegenseitig geschlagen haben. Können wir vergeben und, indem wir anderen vergeben, selber Vergebung empfangen?
Ohne Beziehung zu Gott wäre das nicht möglich. Ihm geben wir, was uns bedrückt, worunter wir leiden. Wir brauchen nicht mehr unsere Schuldiger damit zu belasten. Bei ihm ist unser Schmerz, unser verloren gegangenes Recht, aber auch unsere große und unsägliche Schuld aufgehoben. Er nimmt uns alles ab, worunter wir seufzen und leiden, damit wir wieder frei werden können. Er nimmt auch den Opfern ab ihre Schreie, ihre Schmerzen, ihre Hilflosigkeit - all den Opfern unserer Schuld. Wir brauchen uns nicht mehr gegenseitig zu belasten, weil einer da ist, der für uns trägt.
Beten heißt vergeben - im wahrsten Sinne des Wortes: Gott geben, was wir wünschen, was wir bitten, worunter wir leiden, womit wir nicht fertig werden. Gott nimmt es und verwandelt es in seiner Liebe und gibt es uns so zurück, wie wir es brauchen und tragen können. Menschen, die beten, können loslassen, Gott geben, ihm anvertrauen und aus seiner Hand liebevoll verwandelt zurück nehmen. Beten heißt vergeben, sich erleichtern, Gott mit einbeziehen in unser Leben, damit er mit trägt und uns hilft.
Beten ist nicht nur ein Geben, ein Vergeben an Gott; Beten ist auch ein Nehmen, ein Vernehmen von Gott. Im Beten lernen wir, mit Gottes Augen zu schauen, mit seiner Liebe die Menschen zu lieben. Wir neigen ja dazu, nur unsere eigene jeweilige Erfahrung gelten zu lassen. Wir sind beschränkt und behindert in unserer Wahrnehmung von Welt. Darin liegt unsere große Schuld. Wir meinen, wir haben recht, wenn wir nur auf uns sehen. Jeder hat immer viele und genügend gute Gründe für seine Sicht der Dinge. Er hat recht, mit seinen begrenzten Augen betrachtet. Aber mit den Augen Gottes betrachtet weitet sich der Horizont. Die Sicht der anderen, die unter uns leiden, kommt auch in Betracht. Im Beten vernehme ich von Gott all die Klagen der anderen, ihre Sicht der Dinge, ihre Wünsche und Sehnsüchte. Deshalb ist Beten so wichtig.

Propst Peter Godzik