Der Mechanismus: Erinnern

Die klassische, von Freud ausgearbeitete Trauertheorie hat als Grundelement den Konflikt zwischen einer objektlibidinösen Bindung und dem Realitätsprinzip. Das Realitätsprinzip setzt sich gegen die libidinösen Beziehungen zum Verstorbenen durch. Der Trauernde erkennt schrittweise an, daß das Liebesobjekt nicht mehr vorhanden ist, löst allmählich die einzelnen Bindungen ab und investiert die Libido in anderen Beziehungen. Dies geschieht durch den Vorgang des Erinnerns: mit jeder Erinnerung an einen Einzelzug des Verstorbenen oder an einen glücklichen Tag, den man gemeinsam verlebt hat, wird der Trauernde sich von neuem der Tatsache bewußt, daß dies für immer vergangen und nicht mit diesem geliebten Menschen wiederholbar ist.

Der Mechanismus des Erinnerns spielt eine gewichtige Rolle im Trauerprozeß. Trauernde sind in den meisten Fällen außerordentlich beschäftigt. mit den Erinnerungen an den Verstorbenen, wobei zunächst zumeist die Erinnerungen sehr konzentriert sind auf die letzten Tage und sich dann allmählich auf längere Zeiträume ausweiten. Auch wenn das Bedürfnis oft sehr groß ist, über den Verstorbenen zu sprechen, so wecken die dabei aufkommenden Erinnerungen jedoch zugleich eine Fülle schmerzlicher Gefühle. Sie können so überwältigend sein, daß der Trauernde das Gespräch abbricht, oft in sehr abrupten Formen, oder ihm in Antizipation der Belastung aus dem Wege geht. Aber der Schmerz läßt sich nicht vermeiden, es gibt zuviele Dinge, Orte und Menschen, die die Erinnerung und damit die Erfahrung wachwerden lassen, daß dies alles unwiederbringlich verloren ist.

Die Erinnerungen verlaufen zumeist sehr sprunghaft; sie werden durch oft minimale Analogien ausgelöst und folgen aufeinander in sehr freien Assoziationen. Der rasche Wechsel von Themen wird vom Trauernden vielfach veranlaßt, weil er nicht zu sehr auf einer einzelnen Erinnerung beharren will, da der Schmerz zu groß wäre, wenn er diese bestimmte Erinnerung bis zu allen ihren Konsequenzen ausziehen würde. Zugleich kehrt er aber wie magisch angezogen immer wieder zu  den gleichen Erinnerungen zurück. Er prüft damit von neuem, ob diese Erinnerungen nun besser zu bewältigen sind als bisher. Die meisten Autobiographien von Trauernden zeigen einen raschen Wechsel zwischen fernen und aktuellen Erinnerungen und sind gekennzeichnet durch Rückblendungen, die bis in die Kindheit hineinreichen. Dies spiegelt die realen Erfahrungen der Trauernden wider, besonders dort, wo es sich um authentische Tagebücher handelt, obgleich sicher der Verzicht auf eine lineare Erzähltechnik in der moderen Literatur eine solche Stilform mitbeeinflußt.

S. Freud hat bei der Durchführung einer Analyse terminologisch zwischen „Erinnern“ und „Wiederholen“ unterschieden. In seinem kurzen Beitrag „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“  (1914) schreibt er: Man kann „sagen, der Analysierte erinnere überhaupt nichts von dem Vergessenen und Verdrängten, sondern er agiere es. Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt.“ Das gleiche läßt sich bei Trauernden aufweisen. Es kommt vor, daß sie sich zwar an das Zusammenleben mit dem Verstorbenen erinnern, aber dieses Erinnern bedeutet keine Lösung und keinen Erkenntnisfortschritt. Sie wiederholen und stoßen immer wieder auf das traumatische Erlebnis, aber sie schrecken davor zurück, sich einzugestehen, daß dieses Erinnern den Verstorbenen nicht zurückholen kann.

Auf die Gemeinsamkeit, die zwischen der in der Analyse zu leistenden Arbeit und der Trauerarbeit besteht, ist Caruso eingegangen, Was er über das Erinnern im Prozeß der Analyse sagt, gilt in vieler Hinsicht auch für die Verarbeitung der Trauer durch den Mechanismus des Erinnerns. Der Wiederholungszwang ist in sich vieldeutig und ambivalent. In ihm sind Lebens- und Todestrieb noch unentmischt enthalten. Der Trauernde ist zwanghaft genötigt, immer wieder auf frühere Erinnerungen zurückzugehen; er neigt dazu, die Gedanken an das gemeinsame Zusammenleben mit dem Verstorbenen als eine „Wiederholung“ (im Freudschen Sinne) zu verstehen. Aber diese „Wiederholung“ kann, wie Caruso herausstellt, nie eine adäquate sein, weil sich die Lage verändert hat, in der sich der Wiederholungszwang vollzieht. Auch die pathologische Wiederholung kann nicht den Stillstand der Zeit erzwingen; der Trauernde trägt den Toten mit sich herum, ohne ihn wirklich zum Leben erwecken zu können.

In der Regression des Wiederholungszwanges steckt aber auch, wie in allen Abwehrmechanismen, ein adaptiver Kern, der verhindert, daß der Trauernde sich nicht mit dem konservativen Todesprinzip des Wiederholungszwanges und damit mit einer Vergangenheit identifizieren muß, die vom Tod hinweggerafft wurde. Der adaptive Aspekt des Rückgriffs auf die Vergangenheit kann seine therapeutische Funktion dann erfüllen, wenn er auf Zukünftiges ausgerichtet ist, auf etwas, was eigentlich noch nicht geworden ist. „Die Vergangenheit wird vergegenwärtigt, sie wird ‚wieder-geholt’, um in ihr noch ‚nicht Gewordenes’ zum Werden, das heißt, ... ‚auf das Zukünftige’ hin in Fluß zu bringen“ (I. A. Caruso). Das Wiederholen in der Psychoanalyse wie in der Trauer ist das Herbeiholen des Vergangenen in seine Zukunftspotenz: „Das Vergangene wird ‚neu’, es vollzieht sich eine Auf-Erstehung dessen, was nicht mehr ist, insofern es noch nicht das ist, was es neu werden wird. Das Verdrängte, das wir – einem verwesten Körper gleich – mitschleppen, ‚auf-ersteht’ zu neuem Leben“ (I. A. Caruso).

Die enge Verbindung zwischen dem Prozeß der Analyse und der Trauer ergibt sich schon dadurch, daß in der Trauer nicht nur die Erinnerungen sich an die Person des Verstorbenen heften, sondern zugleich die Welt des Trauernden zusammenbricht und frühere Problemlösungen in Frage gestellt werden. Dies bedeutet, daß auch in der Trauer Konflikte der Kindheit und der Adoleszenz reaktiviert werden. E. Weiss hat unter anderem darauf verwiesen, daß sich in der Trauer oft eine Rückkehr zu den Gefühlsstrukturen ergibt, die in früheren Zeiten bestanden, insbesondere wenn sie auf die Eltern bezogen sind:

„Nach dem Verlust des Vaters oder der Mutter oder einer Person, die in der frühen Entwicklung von ähnlicher Bedeutung war, geschieht häufig eine Wiederbesetzung eines früheren Ich-Zustandes. Die Erinnerung des verlorenen Liebesobjektes, wie es oft viele Jahre zuvor erschienen war, scheint häufig völlig die aktuelle Person zu ersetzen, wie sie zur Zeit ihres Todes war, und die älteren Gefühle, Emotionen und Affekte des Trauernden werden in einer intensiven Weise von neuem in der Trauerarbeit erfahrbar.“

Nach v. Gebsattel lassen sich bei einer solchen Wiederbelebung vergangener Erinnerungen drei Typen von Erinnerungen herausarbeiten. Man kann unterscheiden (1) das adäquate Erleben niemals erlebter, sondern nur gelebter Seeleninhalte, teils der Vergangenheit, teils der Gegenwart; (2) das adäquate Wiedererleben ehemals schon erlebter, aber inadäquat erlebter Seeleninhalte; (3) das adäquate Wiedererleben erlebter, aber erinnerungsunfähig gewordener Inhalte (amnestische Inhalte). Jeder dieser Typen der Erinnerung ist mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, die im einzelnen hier nicht zu besprechen sind. Kommt es aber zu einem adäquaten Wiedererleben, so hat dies nicht nur die kathartische Wirkung des Abreagierens, sondern ist verbunden mit einer Korrektur, Erweiterung und Freilegung der Selbsterkenntnis. Daneben kann das adäquate Wiederbeleben dazu beitragen, daß die oft schon im frühen Alter angelegten Störungen des Individuums zu seiner Umwelt freigelegt werden. Damit werden in starkem Maße Haß- und Liebesgefühle freigesetzt. Der positive Effekt besteht zum einen darin, daß negative, eine menschliche Beziehung störende Affekte aufgegeben werden, sobald sie bewußt werden, „weil das Böse als bewußte Haltung den meisten Menschen gar nicht gemäß ist“, zum anderen darin, daß „eben nach dem Durchleben dieser Affekte das überall ursprüngliche Positivum, die zugrunde liegende Liebestendenz, das Vertrauen, die Hingabe wieder“ durchbricht. Schließlich kann die adäquate Wiederbelebung der Erinnerung dazu beitragen, daß die bisherige Weltorientierung und das gültige Wertsystem bewußt werden, das Individuum erwacht und erlebt in der Entwicklung einer neuen Orientierung und eines neuen Systems eine Art Erweckung. „Wenn Erwachen und Erweckung in der Seele zusammenfallen, hat die Selbsterkenntnis ihre Adäquatheitsstufe erreicht.“12

In der Begegnung mit Trauernden ist es wichtig zu bedenken, daß es in jeder ihrer Erinnerungen nicht nur um Erinnerungen an den Toten geht, sondern zugleich es sich um Rückerinnerungen handelt, die sich auf die eigenen Konflikte und auf den Zusammenbrach der Umweltbeziehungen des Trauernden beziehen. Der Prozeß des Erinnerns setzt eine Fülle von Emotionen frei, die den Trauernden überwältigen würden, wenn er nicht in den Erinnerungen bestimmte auswählte.

Grundlage dieser Selektivität ist vielfach die Ambivalenz, die zwischen dem Verstorbenen und dem Hinterbliebenen bestanden hat. Es ist die Verleugnung der verdrängten Abneigung, die nie realistisch aufgearbeitet worden ist. „Die schon mitgebrachte Angst vor der Aggression wird nun unerhört verstärkt durch den eingetretenen Tod, der das Wesen des Hasses so vor Augen stellt“ (Th. Bonhoeffer). Diese Angst zwingt konsequenterweise dazu, die positiven Gefühle gegenüber dem Verstorbenen herauszustellen und jeden Schatten von ihm abzuwenden. Schon der Versuch, ein realistisches Bild von dem Verstorbenen in gerechter Abwägung seiner Stärken und Schwächen zu geben, erscheint als eine Beleidigung des Toten.

Die einseitig positive Selektion der Erinnerung kann außer mit der Kompensation der Schuldgefühle auf Grund der Ambivalenz noch mit einigen anderen Aspekten erklärt werden. Man kann argumentieren, mit dem Tode hätten die feindseligen Gefühle ihr Ziel erreicht und könnten sich nun ungehindert den positiven Seiten des Verstorbenen zuwenden. Glorifizierung kann auch als ein Akt des Bewußtwerdens verstanden werden, in dem man erkennt, was alles man von dem Verstorbenen empfangen hat, das zuvor als eine Selbstverständlichkeit genommen wurde. Die negativen Züge können angesichts des Todes ihr Gewicht verlieren. Glorifizierung mag auch dem Wunsch entspringen, dem Verstorbenen eine öffentliche Ehrung zuteil werden zu lassen, wobei man angesichts dessen Machtlosigkeit auf die Behandlung strittiger Punkte verzichten kann. Carlin hat darauf verwiesen, daß mit dem Tod eines Familienmitgliedes inzestuöse Wünsche diesem gegenüber frei werden und in der Glorifizierung ihre ungehinderte Expression finden können. Gegenüber dem Pfarrer können die Angehörigen allein deshalb die positiven Seiten des Verstorbenen hervorheben, weil sie negative Aussagen in der Beerdigungspredigt verhindern wollen. Soweit für sie der Geistliche Stellvertreter Gottes ist, möchten sie zugleich ihm und damit Gott den Toten anempfehlen. Er soll vor Gott im besten Licht erscheinen, und dieser soll zumindest wissen, daß die Hinterbliebenen sich mit dem Verstorbenen ausgesöhnt haben und keine Rachegefühle und Vergeltungswünsche gegen ihn hegen. Schließlich hat, zumindest soweit der Tote noch unbewußt als gefährliche Realität empfunden wird, seine Idealisierung auch die Funktion, ihn „wegzuloben“ und zu besänftigen. Dies alles mögen Motive sein, die in die Selektivität der Erinnerung eingehen.

Die einseitige Selektion positiver Erinnerungen hat zudem die Aufgabe, dem Trauernden selbst zu helfen. Die Aussage, der Verstorbene sei ein idealer Ehemann gewesen, oder die Versicherung, man habe während der letzten zwanzig Jahre kein böses Wort gewechselt, befreit nicht nur von den ambivalenten Gefühlen, sondern solche positiven Feststellungen, auch wenn sie nicht völlig der Realität entsprechen, helfen auch dem Selbstgefühl des Trauernden, ebenso wie es das Lob der sozialen Umwelt tut. Stolz auf den Verstorbenen, sein zu können, stärkt die Sicherheit des geschwächten Ichs. Entsprechend sieht Melanie Klein in der Idealisierung eine Reaktivierung des kindlichen Verhaltens, durch Überbewertung seine guten Objekte in sich selber zu schützen, aufzubauen, zu Beschützern zu machen und sich damit gegen destruktive Kräfte zur Wehr zu setzen. „Die innere Unterstützung, die das Ich von seinem freundlichen Verhältnis zu einem realen guten Objekt erfährt, erhöht wieder das Vertrauen zu den verinnerlichten Objekten. So nimmt das Ich – indem es sich der Ambivalenz bedient – abwechselnd zu den äußeren und inneren guten Objekten Zuflucht (Idealisierung).“

Die Idealisierung ist von drei Gefahren bedroht. Je mehr das verlorene Objekt aufgewertet wird, desto größer wird natürlich auch der Verlust, der mit seinem Tode eingetreten ist. Je mehr der Tote gelobt und herausgestellt wird, was er für seine soziale Umwelt und die Gesellschaft bedeutet hat, desto bewußter muß es dem Hinterbliebenen werden, was er verloren hat. Gerade wenn z.B. bei einem Gefallenen sein Opfersinn und sein Dienst für das Vaterland gepriesen werden, mag die Witwe darüber zur Frage kommen, ob dieser Einsatz den persönlichen Verlust, den sie erleidet, eigentlich aufwiegen kann.

Die zweite Gefahr der Idealisierung liegt in ihrer Tendenz, den Verlorenen zu einem Gott oder doch mindestens zu einem Halbgott zu machen. S. Freud vermerkt: „Wer seinen Narzißmus gegen die Verehrung eines hohen Ichideals eingetauscht hat, dem braucht darum die Sublimierung seiner libidinösen Triebe nicht gelungen zu sein.“ Das Ich verarmt, indem es das verlorene Objekt überbesetzt und es als ein absolutes Ideal ansieht. Es mag daraus eine gewisse Unterstützung gewinnen, aber es bleibt dem vergöttlichten Objekt verhaftet. Der Schwur: „Ich werde dich niemals vergessen“ hebt den Toten über das Relative alles Menschlichen hinaus. Wer ihn tut, muß notwendig enttäuscht werden. Die Verherrlichung wird auf die Dauer zu einer unerträglichen Belastung, die zu einer symbolischen Selbsttötung (durch Ich-Verarmung) oder gar zum Selbstmord führen kann. Caruso sieht diese Gefahr besonders stark bei Frauen gegeben, „weil die Entfremdung der Frau in unserer Zivilisation tiefer ist als die des Mannes und sie daher die Erlösung durch ihn erwartet“.

Zudem verbindet sich mit der Idealisierung die Gefahr, bei einer stark ambivalenten Beziehung die libidinösen Beziehungen auf den Verstorbenen auszurichten, während die aggressiven auf andere verschoben werden. Dies läßt sich besonders beim Kind beobachten, das dazu neigt, den Elternteil, der gestorben oder von dem es getrennt ist, zu glorifizieren (die Auskunft, daß der Vater oder die Mutter nun ein Engel sei, mag dies fördern) und alle aggressiven Gefühle gegen den Überlebenden oder gegen den Stiefvater oder die Stiefmutter zu wenden, ein Mechanismus, der aus den Märchen gut genug bekannt ist.

Es sei noch darauf hingewiesen, daß es gegenüber dem Toten nicht nur eine positive Selektion von Erinnerungen gibt, sondern auch eine negative geben kann. Dort, wo die feindlichen Gefühle gegenüber dem Verstorbenen vorherrschen, kann sich der Hinterbliebene nicht mehr intensiv an ihn erinnern und kann darüber hinaus aktiv anstreben, den Toten zu vergessen. Er kann symbolisch seinen Namen von allen Denkmälern entfernen, seine Namensträger töten, wie dies in früheren Zeiten real geschah, er kann sein Grab ungepflegt lassen und es nicht besuchen. Vergessen ist eine Bestrafung und zugleich Verachtung, so wie es B. Brecht im Gedicht „Vom ertrunkenen Mädchen“ sagt:

Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war,

Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß,

Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar,

Dann ward sie Aas in den Flüssen mit vielem Aas.

Der Übergang vom Wiederholungszwang zu dem, was Freud als „Erinnern“ bezeichnet, ist meist fließend. Insbesondere in der regressiven Phase scheint es dem Beobachter, als erzähle der Trauernde immer wieder die gleichen Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Toten, ohne daß sich eine Veränderung zeigt. Je stärker sich das Realitätsprinzip durchsetzen kann, desto mehr zeigt sich dann der Erfolg des anhaltenden Versuches, immer wieder die Erinnerungen darauf hin zu prüfen, ob man den Schmerz ihrer Unwiederholbarkeit ertragen kann. Solange die „Wiederholung“ die Handlungsweise des Trauernden bestimmt, besteht die Gefahr, daß er Personen an sich fesselt und Rituale vollzieht, nur weil sie in der Analogie zu den früheren Erfahrungen und Erlebnissen stehen; erst wenn er sich im Erinnern von der Realität des Verlustes überzeugt hat, wird er frei zu neuen Bindungen.

Im „normalen“ Trauerprozeß wird in der adaptiven Phase im allgemeinen die Glorifizierung allmählich wieder abgebaut. „Nur allmählich, indem der normale Trauernde Vertrauen auf äußere Objekte und Werte aller Art wiedergewinnt, ist er fähig, sein Vertrauen in die verlorene geliebte Person zu stärken. Dann kann er wieder ertragen, daß sein Objekt nicht vollkommen ist, ohne Vertrauen und Liebe zu ihm zu verlieren und Rache zu fürchten“ (Melanie Klein). Er wird wieder fähiger, die Ambivalenz zu dem Toten durchzuarbeiten. Die Arbeit des Trauernden wendet sich „allmählich zurück auf die eigene Person, während sie den Toten nun lassen lernt, wie er ist und seinen stummen Aufruf zum Selbstsein in seiner Besonderheit dankbar hört. Es gilt von jetzt an, die aus der Vergangenheit mit dem Toten stammenden Projektionen auf den gegenwärtigen Toten allmählich zurückzunehmen und das Geheimnis des Toten immer reiner zu ehren“ (Th. Bonhoeffer). Der Verstorbene kann nun gerechter und ehrlicher beurteilt und die gemeinsame Welt im Trauernden auf einer Basis der gegenseitigen Versöhnung erneuert werden. Geglücktes Erinnern und mißlungene Glorifizierung finden sich vereint in einem Fallbeispiel, das Lindemann gibt:

„Einer unserer Patienten, der bei der erwähnten Brandkatastrophe (sc. in der Coconut-Bar Y. S.) seine erst vor einigen Wochen geheiratete Frau verloren hatte, begab sich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus häufig zu den früheren Freundinnen seiner verstorbenen Frau, um sich mit ihnen über die Verstorbene zu unterhalten, etwa darüber, wie die Freundinnen seine Frau kennengelernt hatten, oder wie er sie kennengelernt hatte. Er reiste auf die Bermudas und bemühte sich, die gemeinsame Vergangenheit irgendwie zu rekonstruieren. Seine Schwiegermutter war jedoch sehr aufgebracht über seine anscheinende Gemütsharte, da er solche Dinge mit anderen Menschen besprach. Sie konnte sich ihre Tochter nur etwa als einen Engel mit einem Palmenzweig in der Hand denken, sie hielt es für eine Entweihung, sich die Tochter z.B. in der Küche bei gemeinsamer Küchenarbeit vorzustellen. Dies schien ihr unvereinbar mit der Verklärtheit, in der das Bild der Verstorbenen nunmehr gesehen werden sollte.

Es zeigte sich jetzt aber, daß bei der Mutter der Verlauf der Trauer viel langwieriger war und längere Zeit die Formen einer recht schweren krankhaften Reaktion annahm, während der junge Mann mit der Situation sehr viel besser fertig wurde.“

Damit wird auch das Ziel deutlich, auf das der defensive Mechanismus des Erinnerns ausgerichtet ist: Nicht auf ein Vergessen, nicht auf eine „Wiederholung“ der Vergangenheit, sondern auf eine prozeßhafte und produktive Bewältigung, in der der Verstorbene in das Ich aufgenommen wird. Der Prozeß des Erinnerns bereitet die Inkorporation des Verstorbenen vor, mit der sich der nächste Abschnitt beschäftigen wird.

 

Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung (1973), München: Kaiser 21973, S. 277 ff.