Der Mechanismus: Identifikation mit dem Aggressor

Die Identifizierung mit dem Angreifer stellt einen Abwehrmechanismus dar, der, wie Anna Freud herausgestellt hat, nicht nur bei dem Aufbau des Über-Ich mitwirkt und diesem hilft, unerwünschte Triebregungen zu bewältigen, sondern auch „eines der gewichtigsten Mittel im Umgang mit den angsterregenden Objekten der Außenwelt“ darstellt. Anhand einiger Beispiele aus der Kindertherapie zeigt sie, wie Kinder etwas von der angsterregenden Person in sich aufnehmen, diese Person spielen und damit eine vergangene oder antizipierte Gefahr verarbeiten. In der Bildung eines Über-Ichs spielt dieser Mechanismus deshalb eine gewichtige Rolle, weil auf diese Weise „im Kampf mit den Autoritätspersonen, also in der Auseinandersetzung mit seinen Angstobjekten“ das Ich die Wertsetzungen dieser Autoritätspersonen übernimmt. Diesem Über-Ich, das für S. Freud zunächst durch den Vater repräsentiert wird, schließen sich im Laufe der Kindheitsentwicklung mit der Loslösung von den Eltern „dann die Einflüsse von Lehrern, Autoritäten, selbstgewählten Vorbildern und sozial anerkannten Helden an, deren Personen von dem resistenter gewordenen Ich nicht mehr introjiziert zu werden brauchen. Die letzte Gestalt dieser mit den Eltern beginnenden Reihe ist die dunkle Macht des Schicksals, welches erst die wenigsten von uns unpersönlich zu erfassen vermögen.“ Dabei kann es zu einer Relation zwischen Über-Ich und Ich kommen, bei dem „das Über-Ich, das in ihm (sc. Ich Y. S.) wirksame Gewissen, ... nun hart, grausam, unerbittlich gegen das von ihm behütete Ich werden“ kann. Das Ich unterwirft sich dann unter Umständen dem gesteigerten Sadismus des Über-Ichs. Es kann aber auch der Fall eintreten, bei dem der eigene Masochismus des Ichs nach Strafe, sei es vom Über-Ich, sei es von den Elternmächten, verlangt. In beiden Fällen entsteht ein Bedürfnis, das nur durch Leiden und Strafe befriedigt werden kann.

In „Trauer und Melancholie“ hat S. Freud diese Identifizierung mit dem Angreifer im Verhalten des Melancholikers aufgewiesen, der durch das Liebesobjekt gekränkt und getäuscht worden ist. Statt es aber aufzugeben, identifiziert sich das Ich mit dem enttäuschenden Objekt; damit fallen die negativen Eigenschaften des Objektes auf das Ich des Melancholikers. Wie er das treulose Objekt betrachtet, so wird er nun auch sich selber betrachten; seine Kritik und seine feindseligen Gefühle fallen im Zuge seiner Identifizierung mit dem kränkenden Objekt auf ihn selbst zurück. Das Ich wird beschimpft, erniedrigt, muß leiden und zieht aus diesem Leiden eine masochistische Befriedigung.

Der Abwehrmechanismus: Identifikation mit dem Aggressor findet sich jedoch nicht nur bei dem Kind und bei dem Depressiven, sondern läßt sich auch in der „normalen“ Trauer nachweisen. Im Unterschied zu den übrigen bisher behandelten aggressiven Abwehrmechanismen wird hier die Aggression nicht gegen den Toten oder andere Personen und Mächte gerichtet, sondern gegen das eigene Ich.

In der Reihe der Abwehrmechanismen findet sich ein weiterer Bewältigungsmechanismus, der, wie der der Identifikation mit dem Aggressor, darauf ausgerichtet ist, das verlorene Objekt innerhalb der psychischen Organisation wiederaufzurichten. Wir bezeichnen ihn als den Bewältigungsmechanismus der Inkorporation. Diese beiden defensiven Mechanismen der Introjektion unterscheiden sich dadurch, daß bei der Identifikation mit dem Aggressor der aggressive Anteil in der Beziehung wesentlich höher ist als bei der Inkorporation, bei der durchaus auch aggressive Triebanteile vorhanden sind, die libidinösen aber überwiegen. Eduard Weis hat dies zusammenfassend formuliert:

„Eine ähnliche Verwandlung kann in einer Person beobachtet werden, die jemand verloren hat, den sie liebt. Sie ist zunächst unfähig, ihr durch das Es besetztes Verlangen nach dem Verlorenen zu kontrollieren. Dann begibt sie sich durch die ‚Trauerarbeit’ in einen Prozeß, in dem sie sich körperlich mit dem Verstorbenen identifiziert. Am Ende dieses Prozesses liebt sie nicht mehr die aktuelle Person, sondern die ich-bezogene, selbstgeformte Wiederherstellung dieser Person in sich selbst. Nur in den Grenzen, in denen der Verstorbene tatsächlich durch eine solche Internalisierung ersetzt werden kann, wird das Ich gefühlsmäßig frei von dem verlorenen Liebesobjekt … Der Prozeß führt zu Selbsthaß und Selbstvorwürfen, wenn die inkorporierte Person der Gegenstand von am bivalenten Gefühlen ist, in denen Haß und Liebe sich mischen.“

Wenn in der Trauer die Aggression auf das eigene Ich gewendet wird, so setzt das verlorene Objekt seine Herrschaft über den Hinterbliebenen ungebrochen fort, indem es in die psychische Organisation aufgenommen wird. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Lebende den Hinterbliebenen (den Ehepartner, das Kind) nie freigegeben und eine Erweiterung des Über-Ichs behindert hat, indem er selbst persönlich stets das formende Vorbild blieb. Der Vater- oder Mutteranteil des Über-Ichs überwog die Anteile am Über-Ich, die durch Gesellschaft und Religion eingebracht wurden. Der Vater oder die Mutter bildeten auch für den Erwachsenen den überwiegenden Anteil seines Gewissens. …

Die Schuldgefühle bei Trauernden lassen sich nach der Reihenfolge ihrer Intensität in vier Kategorien einteilen. Am kurzfristigsten ist Schuld sicher auf Grund der Erleichterung, sofern eine ambivalente Beziehung bestand; zumindest in der regressiven Phase wird sie, wie gesagt, meist rasch zurückgenommen. An zweiter Stelle stehen Schuldgefühle wegen bestimmter Vernachlässigungen. Schwerer wiegen die Schuldgefühle, die der Trauernde auf Todeswünsche zurückführt. Besonders gravierend kann jedoch das Schuldgefühl sein, überlebt zu haben.

(1) Eine Quelle der Selbstvorwürfe ist die Erleichterung, die der Hinterbliebene empfindet, Erleichterung darüber, daß er von einer großen Belastung erlöst ist. Eine Witwe in einer Fallbeschreibung bei Marris drückte ein solches Gefühl der Erleichterung aus: „Ich fühlte mich entspannt. Es ist nichts Böses, sich erleichtert zu fühlen. Ich war völlig fertig und aufgefressen von Sorge und von der Eile, zurückzukommen vom Krankenhaus jeden Morgen und meinem Mädchen das Essen zu machen.“ Aber zugleich hat sie sich gegen die unausgesprochenen Vorwürfe zu wehren, ein solches Gefühl der Erleichterung gehöre sich nicht. Wenn die Erleichterung in der Folge eines unterdrückten Todeswunsches erfahren wird, wie ein Fallbeispiel von Autton zeigt, können Schuldgefühle besonders intensiv sein.

(2) Der Hinterbliebene mag sich Vorwürfe machen, daß er nicht früher auf die Anzeichen der Krankheit geachtet und allzu lange gezögert hatte, einen Arzt herbeizuholen. Er mag sich schuldig fühlen, nicht weitere und bessere ärztliche Autoritäten herangezogen zu haben, die unter Umständen eine bessere Therapie vorgeschlagen hatten. Der Trauernde mag sich vorwerfen, dem Wunsch des Todkranken gefolgt zu sein und ihn aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht zu haben; dies mag auch im Gegenfall eintreten, wenn aus gleichen Gründen versäumt wurde, den Sterbenden ins Krankenhaus zu bringen. Andere Vorwürfe haben die zu seltenen Besuche zur Ursache; es lassen sich viele Beispiele geben, die aus den Vorwürfen entspringen, für den Sterbenden angeblich nicht genügend getan zu haben. Sie können durch andere Hinterbliebene verstärkt werden, wenn etwa ein Witwer über seine Tochter sagt:

„Ihre Mutter wurde im Krankenhaus behandelt, aber sie brachte sie hinaus. Sie nahm sie zu sich in ihr Haus in T’m. Ich hatte volles Recht, sie zu beschuldigen, sie habe die Mutter getötet. Sie hat wirklich damit ihre Mutter ermordet; ich habe ihr andauernd erzählt, daß die Ärzte in T’m nicht so gut sind.“

Besonders heftig und weitverbreitet sind die elterlichen Schuldgefühle beim Tod eines Kindes. So berichten B. Friedman et al. vom Verhalten von Eltern auf einer Kinderstation für Leukämie, daß diese fast ohne Ausnahme sich die Schuld dafür gaben, nicht aufmerksam genug auf die ersten Symptome dieser Erkrankung geachtet zu haben. Diese Selbstvorwürfe waren zwar zumeist rasch vorüber, besonders dann, wenn der Arzt versicherte, auch eine frühere Diagnose hätte nichts am fatalen Verlauf der Erkrankung ändern können. Bei einer Minorität der Eltern blieben jedoch die Selbstvorwürfe unüberwindbar oder wurden dann darauf bezogen, sich nicht besser auf das Kind eingestellt und es zu hart behandelt zu haben. Solche Selbstvorwürfe ließen sich in kürzeren Gesprächen nicht beseitigen, da hier, wie die Verschiebung zeigt, tieferliegende Schuldgefühle reaktiviert wurden.

Neben einer Vernachlässigung des Kranken mögen auch Auseinandersetzungen vor dem Tode Anlaß zu Selbstvorwürfen sein. Autton berichtete über den Streit eines Ehepaares aus einem nichtigen Anlaß beim Frühstückstisch. Auf dem Wege zur Arbeitsstätte erleidet der Ehemann eine Herzthrombose und stirbt auf dem Wege zum Krankenhaus. Schuldgefühle und Gewissensbisse waren bei der Witwe außerordentlich ausgeprägt, weil die letzten Worte, die man gewechselt hatte, Worte der Auseinandersetzung gewesen waren.

Eine große Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Zusicherung von autoritativer Seite, daß man nichts Wesentliches falsch gemacht habe. Die Anerkennung seitens des Arztes, die Ehefrau habe sich so abgemüht, daß sie „fast selber ein Opfer des Todes“ geworden sei, ist eine wesentliche Hilfe gegenüber dem häufigen Selbstvorwurf, man habe nicht genügend gesorgt. Das von den Hinterbliebenen häufig ausgesprochene Selbstlob, wie sorgfältig sie sich um den Sterbenden gekümmert hätten, dient gleichermaßen der Verteidigung gegen unausgesprochene gegenteilige Vorwürfe und wird erst wirksam, wenn andere es voll bestätigen.

(3) Lange Pflegezeiten können häufig die Geduld der Hinterbliebenen aufs äußerste strapazieren; sie geben nicht nur Anlaß zu unfreundlichen Reaktionen, sondern mögen sich in dem flüchtigen und sofort wieder unterdrückten Wunsch äußern, der Kranke möge doch bald sterben. Breuer und Freud haben, etwa bei dem Fall der Anna O. den Zusammenhang von Krankenpflege und Todeswunsch herausgestellt. Freud hat im erfüllten Todeswunsch gegen den Vater die Ursünde der Menschheit, „die Hauptquelle des Schuldgefühls“, gesehen, an dem alle individuellen Todeswünsche partizipieren. Zwar ist dies ein ebenso mythologischer Ausdruck wie die Lehre von der Ursünde des ersten Menschen, er deutet jedoch auf die Universalität des Todeswunsches hin. Er läßt sich auch bei Trauernden aufweisen.

(4) Schuldgefühle sind sehr ausgeprägt im Falle von einem, wie Lifton es genannt hat, „Wettbewerb um das Überleben“, wie er z.B. in Konzentrationslagern stattfand. Jeder Versuch, dem Selektionsprozeß zu entgehen, bedeutete zugleich den Tod eines anderen, so im Falle von Dezimierungen, wo der Schwächere auf den Platz gestoßen wurde, dessen Zahl das Todesurteil bedeutete, bei der Anbiederung an Kapo und SS, bei der Änderung von Todeslisten, wenn es möglich war, den eigenen Namen durch einen anderen zu ersetzen.

Der Schriftsteller E. Wiesel war fünfzehn Jahre alt, als er in Auschwitz eingeliefert wurde. Er betreute seinen kranken Vater auch in den Lagern von Buna und Buchenwald. Als sein Vater starb, beobachtete er „in dem Rückgang meines geschwächten Gewissens“ bei sich ein Gefühl, „endlich frei zu sein“. Er beschreibt, wie er deshalb über sich selbst auf immer beschämt ist und sich schuldig fühlt. Der Eindruck dieses Erlebnisses war so stark, daß er nach seiner Befreiung und einer darauf folgenden Erkrankung, als er einmal in einen Spiegel sah, dachte: „Ein Leichnam schaute auf mich zurück. Der Blick in seinen Augen, als sie in meine starrten, hat mich niemals wieder verlassen.“

Eine ähnliche Beobachtung macht Charles Anderson bei Patienten mit Kriegsneurosen. Ihre ständige Redeweise: „Die Kugel hat eigentlich mir gegolten, nicht ihm“ sei kein meinungsloses Klischee, sondern drücke die innere Überzeugung aus, der Überlebende habe kein Recht zum Leben. Es besteht ein intensives Gefühl eigener Schlechtigkeit, der Hinterbliebene fühlt sich schuldbeladen und ist überzeugt von seiner völligen Wertlosigkeit.

Vergleichbare Erfahrungen mit der Schuld des Überlebens kann jeder Sterbende vermitteln. Jeder Hinterbliebene nicht weniger wie der Arzt „muß fertigwerden mit der Schuld, die der fragende Blick des Sterbenden hervorruft, hinter dem die unausgesprochene Frage steht: ‚Warum muß ich sterben, während du lebst?’“ Es ist dieser starre, beschuldigende Blick des Toten, der mitbestimmend für die Sitte ist, dem Verstorbenen die Augenlider zu schließen und damit anstelle des Eindrucks des Vorwurfs den des friedlichen Schlafens zu erwecken.

Ähnliche Schuldgefühle haben die Überlebenden von Hiroshima, insbesondere dann, wenn Eltern ihre Kinder überleben, die damit einen „unzeitigen“ Tod sterben, d.h. einen Tod, der nach dem normalen Verlauf erst nach ihrem eigenen einzutreten hätte. Die Überlebenden von Hiroshima bezeichnen diese Schuldgefühle als „lebende Hölle“. Lifton schreibt:

„Auf Grund dieser extremen Erfahrungen wurde uns allmählich deutlich, daß die eigenen Gefühle über Tod und Überleben niemals als eine individuelle Angelegenheit erlebt wurden; daß die Bilder des Sterbenden eng verbunden waren mit den Fragen im Inneren, wer und was überleben werde, und die Bilder des Überlebenden, wer (und was) an seiner eigenen Stelle gestorben war.“

Auch für die Hiroshima-Überlebenden war das internalisierte Bild der anklagenden Augen des Toten von großer Bedeutung. Es war für sie schwer, sich davon freizumachen, zumal sie in einer Kultur leben, in der stärker als in einer christlich-protestantischen der Wert des Individuums vor allem davon bestimmt ist, wie er von dem anderen, insbesondere von seinen Eltern, angesehen wird. Sie zwingt dazu, sich mit dem Toten zu identifizieren und. sich mit den Augen des Toten zu sehen. Lifton spricht in diesem Zusammenhang von „identification guilt“, der Schuld, dem anderen das Leben gestohlen zu haben und eigentlich an seiner Stelle sterben zu müssen.

Es ist ein verständliches Bedürfnis des Trauernden, von den Schuldgefühlen gegenüber dem aggressiven Verstorbenen freizukommen; er wird den Versuch machen, die Vergehen, die er begangen hat, zu sühnen. Dabei besteht aber in vielen Fällen, gerade dann, wenn der Trauernde sich in der regressiven Phase befindet, ein starker Zwang, die Sühnung auf der Ebene einer primitiven Weltordnung durchzuführen. Damit werden viele Sühnungsmittel, die im alltäglichen Leben oder auch als kirchliches Ritual der Sündenvergebung zur Verfügung stehen, unwirksam, da sie diese primitive Welt- und Wertordnung nicht erreichen.

Der regressive Charakter von Schuld und Sühne zeigt sich einmal (wie auch im Mechanismus des Suchens nach dem Schuldigen) in einer starken Personalisierung. Der Trauernde „fühlt eine irrationale und persistierende Schuld über den Tod, als sei er selbst schuldig an ihm und sei zumindest durch seine Fehler daran beteiligt“ (Ch.W. Wahl). Zum anderen führt die Präokkupation mit dem Toten dazu, diese Verschuldung zu einer ausschließlichen Angelegenheit zwischen dem Verstorbenen und dem Hinterbliebenen zu machen. Alle anderen Personen und Faktoren werden ausgeblendet. Schließlich muß die Sühne der Schuld entsprechen, die der Hinterbliebene hat; es gilt ein ius talionis: Wer den Tod eines anderen verursacht hat, muß selber sterben. Schuld wie Vergebung können nicht generalisiert und auf die ganze Menschheit umgelegt werden; deshalb sind Formen christlicher Vergebung meist wirkungslos.

Bei der Trauer lassen sich eine Reihe von Sühnemitteln aufweisen. (1) Das ius talionis erfordert, daß der Hinterbliebene selber den Tod erleidet; er begeht Selbstmord oder stirbt dem Toten nach. In den meisten Fällen vollzieht er jedoch den Tod nur symbolisch und geht in seiner Trauer bis an die Grenze der psychischen Auflösung, kauft sich aber durch ein Opfer vom Tode frei. Die Identifikation und damit die Sühne vollzieht sich als partielle Selbstaufgabe und Opfer von Eigentum. Die Symbolhaftigkeit der Handlung ist daran zu erkennen, daß eine anschauliche Beziehung zwischen Tod und Todesersatz besteht. Neben der vollen Identifikation kann man in Anlehnung an eine Klassifizierung, die G. K. Krupp vorgeschlagen hat, weitere Identifikations- und Sühneformen in der Trauer feststellen: (2) Lange und intensive Krankenpflege kann von Schuldgefühlen entlasten. (3) Der Hinterbliebene gestaltet das Grab zu einem Ort, wo er Weisung von dem Toten erhält und zugleich durch hohe Opfer bei der Ausstattung der Beerdigung und des Begräbnisplatzes sowie durch die Mühen des regelmäßigen Besuches seine Schuld sühnt. (4) Der Trauernde kann sich mit dem Verstorbenen identifizieren, indem er sich selbst symbolisch tötet, indem er sich selber verletzt und Teile seines Körpers, etwa Haare, opfert; er kann auch die Krankheitssymptome des Verstorbenen übernehmen; seine Erkrankung stellt damit zugleich eine Sühne für die Schuld dar. (5) Der Trauernde kann durch die Farbe seiner Kleidung anzeigen, daß er eigentlich zu den Toten gehört und sich andere Mittel der Selbstbeschränkung und Selbstisolierung auferlegen; (6) der Trauernde kann sich dem Toten unterwerfen, indem er bestimmte Charakterzüge und Verhaltensweisen übernimmt, die dem aggressiven Arsenal des Verstorbenen entstammen; (7) er kann sich ihm so stark verpflichtet fühlen, daß er dessen berufliche oder sonstige Tätigkeiten übernimmt und weiterführt: hier wird es allerdings häufig schwierig, eine exakte Abgrenzung zu einer stärker libidinös bestimmten Introjektion und zur Substitution zu machen. Es ist dann vor allem das Merkmal der Zwanghaftigkeit, an dem sich das Vorherrschen einer Identifikation mit dem Aggressor erkennen läßt.

 

Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung (1973), München: Kaiser 21973, S. 238 ff.