Der Mechanismus: Inkorporation

Wie bereits oben erwähnt wurde, werden in den Theorien über die Trauer die Begriffe „Introjektion“, „Identifikation“, „Inkorporation“ und „Internalisierung“ unterschiedlich verwendet und nicht klar voneinander unterschieden. Wir haben uns entschlossen, mit dem Begriff der „Introjektion“ die Rekonstruktion des Verstorbenen mit seinen Vorstellungen und Wünschen im Trauernden zu bezeichnen. Ist diese Introjektion überwiegend bestimmt durch die aggressiven Beziehungen zwischen dem Toten und dem Lebenden, sprechen wir von einer „Identifikation mit dem Aggressor“, und kürzer von einer „aggressiven Identifikation“; sind diese Beziehungen überwiegend objektlibidinös, so sprechen wir von einer „Inkorporation“, wobei häufig jedoch die Grenze fließend ist. Der Begriff „Inkorporation“ deutet darauf hin, daß in diesem Bewältigungsmechanismus der Verstorbene in seiner vollen Persönlichkeit angenommen wird, nicht nur in seinen aggressiven oder glorifizierten Zügen. Anne Philipe beschreibt das hier Gemeinte:

„Ich habe dich zu sehr geliebt, um hinzunehmen, daß dein Körper verschwindet, und zu verkünden, daß deine Seele genügt und weiterlebt. Und wie soll man es anstellen, sie voneinander zu trennen und zu sagen: Dies ist seine Seele, und das ist sein Leib? Dein Lächeln und Blick, dein Gang und deine Stimme, waren sie Materie oder Geist? Beides, aber untrennbar.“

Zum anderen hat Abraham, wie oben dargestellt, Depression und Trauer insbesondere mit der oralen Phase verbunden. Er hat im Anschluß an Freuds Analyse des frühkindlichen Narzißmus die Introjektion als „orale Einverleibung“ bezeichnet und dies an den zahlreichen entsprechenden Symptomen zu belegen versucht, die sich bei Trauernden aufweisen lassen.

H. W. Loewald hat den Vorgang der Inkorporation (die er Internalisierung nennt) im Trauer­prozeß genauer beschrieben und ihn mit Trennungsvorgängen, die sich bei der Introjektion des Superegos beim Kinde und am Ende einer Analyse vollziehen, verglichen. Er hat dabei eine weitgehende Übereinstimmung festgestellt. Er bezeichnet Introjektionen als „bestimmte Umformungsprozesse, durch die Beziehungen und Interaktionen zwischen dem individuellen psychischen Apparat und seiner Umgebung m innere Beziehungen und Interaktionen innerhalb des psychischen Apparates umgewandelt werden. So wird eine innere Welt aufgerichtet, die dann sich rückwendend Beziehungen und Interaktionen mit der äußeren Welt unterhalten kann“. Loewald betont, daß diese Loslösung keineswegs nur eine negative Ausrichtung hat, sondern daß Inkorporation Emanzipation bedeuten kann.

Dabei ist bei der Trauerarbeit „die Umwandlung von einer Objektbesetzung zu einer narzißtischen Besetzung in gewissen Grenzen eine Wiederholung der älteren Erfahrung, die oedipalen Beziehungen aufzugeben und sie im Ich wiederaufzurichten“. Den wesentlichen Unterschied zu dieser, frühen Form der Trennung sieht Loewald vor allem dann, daß bei der Trauer keine Eltern diesen Prozeß der Ablösung aktiv fördern und unterstützen. Verläuft der Prozeß der oedipalen Lösung in einer positiven Form, so wird das Subjekt in den Stand versetzt, im späteren Leben den Verlust ohne intensive Hilfe von außen zu bewältigen. Man kann dies auch in der Sprache Melanie Kleins so ausdrücken, daß die guten inneren Objekte, die das Kind sehr früh in Gestalt seiner Eltern aufgenommen hat, mit ihm trauern und damit zugleich den Trauernden trösten. „Seinen Gefühlen nach teilen sie (sc. die guten Objekte Y. S.) seinen Kummer in derselben Weise, wie es wirklich gütige Eltern tun würden. Der Dichter erzählt uns, ‚die Natur trauert mit den Trauernden’. Ich glaube, daß ‚Natur’ in diesem Zusammenhang die innere gute Mutter darstellt.“

Man braucht nicht, wie dies Roheim und Abraham tun, die Inkorporation als eine sublimierte Form einer ursprünglich allgemein üblichen Nekrophagie zu verstehen, um zu sehen, daß die „Einverleibung“ des Liebesobjektes in symbolischen Handlungen und Redewendungen im allgemeinen wie auch im religiösen Bereich eine wesentliche Rolle spielt. Da der Säugling noch keine klare Abgrenzung zwischen der Mutter und sich selbst vollziehen kann, hat er das Erlebnis, er nehme die Mutter in sich auf; später sich entwickelnde Formen der Einverleibung schließen sich hier an. Gerade weil Essen und. Trinken zu den primären Bedürfnissen gehören und menschliche Grundtriebe darstellen, läßt sich an ihnen eine Fülle psychischer Vorgänge darstellen.

Wie jeder der hier behandelten defensiven Mechanismen hat auch die Inkorporation stärker regressive und stärker adaptive Aspekte. Die regressive Phase zeichnet sich durch eine deutliche Veränderung der Eßgewohnheiten aus. Sie kann dahin gehen, daß der Verlust zur Appetitlosigkeit und damit zu einer Gewichtverminderung führt, wobei die Derealisations-erscheinungen nicht nur auf das Sehen, sondern auch auf das Schmecken übergreifen: das Essen schmeckt wie „Sand“ oder wie „Spreu und Sägemehl“; die Anorexie entspricht dann der Apathie. Seltener ist Bulimie, die sich nach G. R. Krupp am ehesten bei Jugendlichen finden läßt. Nicht zu essen nach dem Tode eines Menschen kann für den Trauernden eine verpflichtende Bedeutung haben. Es besagt wie das Fasten, daß man einer besonderen Verpflichtung sich unterwirft. Sie wird in „primitiven“ Stämmen oft für die Witwe und die näheren Angehörigen eines Verstorbenen vorgeschrieben. Es ist voll mit der symbolischen Bedeutung verbunden, der „Welt abgestorben“ zu sein und hat damit den gleichen Sinn wie das Fasten bei der Buße, wo ebenfalls eine Trennung von der Welt vollzogen wird; auch hier zeigt sich die doppelte Bedeutung des Sterbens auf der einen Seite und des Gewinnens einer neuen Welt auf der anderen.

Dagegen sind die unbefangene Teilnahme an der Leichenfeier und die Rückkehr des normalen Appetites das Anzeichen einer adaptiven Bewältigung. Die bereits erwähnte Traumfolge, die sich bei Abraham findet, zeigt m aller Deutlichkeit die regressive und die adaptive Seite der Inkorporation. Ein Fallbeispiel kann das (persistent gewordene) regressive Verhalten bei der Inkorporation im Trauerfalle zeigen:

„Eine Patientin, eine Frau von 39 Jahren, zeigt das Bild von übergroßer Eßlust. Ihre Mutter hatte vor vierzehn Jahren Selbstmord begangen. Der Vater lebte getrennt; es gab noch eine wenig jüngere Schwester und einen achtzehnjährigen Bruder. In den achtzehn Stunden, die dem Verlust folgten, zeigte die Patientin keine Emotionen, aber übernahm es, den Vater über den Verlust zu informieren (schonte ihn aber, indem sie ihm nicht mitteilte, daß es sich um einen Selbstmord handelte). Sie brachte die Geschwister in ein anderes Haus, arrangierte die Beerdigung usw. Am Ende der achtzehn Stunden, gegen Mittag, kurz vor der Beerdigung, hatte die Patientin ein plötzliches Verlangen nach einem Schokoladentrunk, eine seltene Erfahrung für sie. In den zehn Monaten nach dem Tode gewann sie allmählich fünfzehn Pfund an Gewicht, fast ohne es zu bemerken; sie hatte bis dahin niemals Übergewicht. Die weitere Analyse enthüllte, daß die Mutter sich seit der Kindheit der Patientin in sich zurückgezogen hatte, sie zurückgestoßen und später eine Involutionsdepression und paranoide Züge entwickelt hatte. Es bestand offensichtlich eine große Ambivalenz hinter dem emotionslosen äußeren Verhalten der Patientin. Sie beobachtete, daß seit dem Tod ihrer Mutter Spannungszustände erhöhte Eßlust in ihr hervorriefen; ein gefüllter angespannter Magen verschaffte ihr Entspannung, bezeichnete für sie aber auch Selbstbestrafung, weil sie sich selber haßte, oder war ein Ausdruck ihrer Feindseligkeit, ihre ‚Feinde’ zu verzehren (‚durchzukauen’). Zur gleichen Zeit erlaubte die Bulimie, die mütterliche Brust einzuverleiben und ihrem Entzug vorzubeugen, nach der sie so sehr in Augenblicken der Hilflosigkeit verlangte.“

Man wird sicher Redlich und Freedman Recht geben müssen, die vor einer zu raschen Übersetzung der „Organ-Sprache“ warnen. Zwar hat jede körperliche Reaktion, wie sie von dem Trauernden erlebt wird, ihre symbolische und psychische Bedeutung, aber vielfach bestimmt erst diese Interpretation die weitere Bewältigung der Trauer. Symptome, die sich mit regressiven und adaptiven Formen der Inkorporation verbinden lassen, können auf ältere Konflikte und später erworbene Bewältigungsformen verweisen; sie müssen nicht unbedingt im Zusammenhang mit dem aktuellen Todesfall stehen. Häufig gelten sie für alle Verlusterfahrungen gleichermaßen; Appetitlosigkeit und daraus folgende Abmagerung müssen nicht bedeuten, man wolle dem Toten nachsterben, sondern können auch generell (wie etwa in der Adoleszenz) die mangelnde Bereitschaft bekunden, ein Liebesobjekt trotz der Forderung des Realitätsprinzips aufzugeben.

Zugleich ist es entscheidend, welche Bedeutung Essen überhaupt und bestimmte Speisen für den Trauernden besitzen. Wie W. W. Hamburger herausgestellt hat, kann Appetit sehr unterschiedliche symbolische Bedeutung haben. Träume von Essen enthüllen gewöhnlich ein Verlangen, das nichts mit der akuten Hungerstillung zu tun hat, nämlich interpersonale Gratifikation, sexuelle Befriedigung oder auch Ausdruck von Feindseligkeit (Beißen, Zerkauen) und langsame Selbstzerstörung.

Charlotte G. Barcock hat drei adaptive Funktionen des Essens herausgestellt, mit denen sich Symptome der Patientin in dem obigen Fallbeispiel interpretieren lassen. Essen kann Angst und Spannungen beseitigen; es kann das Gefühl vermitteln, geliebt und angenommen zu sein, wie es umgekehrt dazu führen kann, andere zu beeinflussen, zu gewinnen und zu besänftigen.

Sofern Essen eine solche helfende und unterstützende Funktion für den Trauernden hat, kann es in seiner faktischen und übertragenen Form ihm helfen, die Einverleibung des Toten zu fördern. Sich etwas Gutes zu tun oder Gutes tun zu lassen, bestätigt, um in der Sprache Melanie Kleins zu sprechen, daß die guten Objekte nicht gestorben sind, sondern sich durch Essen in seiner praktischen und symbolischen Bedeutung wiederbeleben und im Innern wiederaufrichten lassen. Es zeigt, daß die Kommunikation mit der Welt nicht abgebrochen ist, sondern zusammen mit dem Verstorbenen in dem Trauernden neu erbaut wird.

 

Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung (1973), München: Kaiser 21973, S. 291 ff.