Der Mechanismus: Manie
Gewöhnlich wird von Manie im Zusammenhang
mit den manisch-depressiven Verhaltensstörungen gesprochen. Wie die Depression
bezeichnet die Manie ein Syndrom und ist nicht allein mit Euphorie oder
gehobener Stimmung identisch. Dieses Syndrom kann bei einer Vielzahl von Leiden
auftreten; wir finden es jedoch in seiner reinsten Ausprägung bei manischdepressiven
Verhaltensstörungen.
Das Grundgefühl bei der Manie ist
Euphorie, der Patient fühlt sich glücklich und unbekümmert, auch heftige
Schicksalsschläge können ihm nichts anhaben. Manche Erkrankte hegen
außerordentliche Vorstellungen von ihrer Macht und ihrer Bedeutung, die sie instande setzen, sich in sinnlose und riskante
Unternehmungen einzulassen. Häufig ist ihre euphorische Stimmung von einer
lästigen Reizbarkeit begleitet. Im Gegensatz zu depressiven Patienten treten
manische äußerst selbstbewußt auf. Mit den Empfindungen
magischer Allmacht und höchster Selbsteinschätzung verbindet sich ein Mangel an
Schuld- und Schamgefühl und oft auch die Verleugnung wirklicher Gefahren oder
eines wirklichen Verlustes. Die euphorische, expansive und reizbare Stimmung
ist von erhöhter psycho-motorischer Aktivität begleitet und vielfach mit einem
großen Redefluß und einer erheblichen Ideenflucht verbunden.
Melanie
Klein hat, auf Grund
einiger noch zu besprechender Äußerungen Freuds, die Manie als einen
Abwehrmechanismus gegen die Depression bezeichnet. Ihrer Meinung nach ist die
Manie vor allem durch das Gefühl der Omnipotenz bestimmt, das sich mit dem
Mechanismus der Verleugnung verbindet. Die Manie vermittelt dem Ich den
Eindruck, es könne das verlorene Objekt bestrafen, indem es dieses tötet; dies
ist der extremste Ausdruck dafür, den Verlust in seiner Bedeutung herabzusetzen
und zu verachten. B. D. Lewin, der
die umfassendste Analyse der Manie auf psychoanalytischem Gebiet vorgenommen
hat, ordnet sie wie M. Klein dem
Abwehrmechanismus der Verleugnung zu. Die besondere Form der Verleugnung
besteht darin, daß das Ich die emotionale Bedeutung
eines äußeren Ereignisses bestreitet: „Obgleich es zugeben würde, daß ein Tod eingetreten ist, vertritt das Ich die Ansicht, daß dies keine Bedeutung hat.“
In der Trauer läßt
sich der defensive Mechanismus der Manie in drei Formen nachweisen, wobei die
beiden ersten mehr der regressiven Phase angehören, während sich die dritte
stärker in der adaptiven Phase nachweisen läßt. Die
beiden ersten Formen hat, wenn auch nicht speziell an der Trauer, S. Freud herausgestellt; danach ist die
Manie einmal ein zeitweiser Triumph des Ichs über das
aggressive Über-Ich; zum anderen eine glückhafte Fusion zwischen ihnen beiden;
letztere Auffassung hat Lewin besonders
betont. Auf die adaptive Form der Manie in der Gestalt der Freude, die
schmerzliche Trennung nun endgültig überwunden zu haben, hat vor allem K. Abraham hingewiesen.
(1) Um den ersten Aspekt der Manie, das Gefühl
des Triumphes, zu verstehen, müssen wir auf „Totem und Tabu“ zurückgehen,
das auch hier eine Schlüsselstellung für die Traueranalyse einnimmt. Freud hat dort herausgestellt, daß bei der Opferung des Totemtieres zunächst dieses Tier
beweint und beklagt wird, bald darauf aber die lauteste Festfreude ausbricht. Freud erklärt das Wesen des Festes:
„Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr
ein gebotener Exzeß, ein feierlicher Durchbruch eines
Verbotes. Nicht weil die Menschen infolge irgendeiner Vorschrift froh gestimmt
sind, begehen sie die Ausschreitungen, sondern der Exzeß
liegt im Wesen des Festes; die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des sonst Verbotenen erzeugt.“
Ihren Ursprung haben solche Feste in dem
mythologischen Ereignis des Triumphes über den Urvater, dessen Ermordung in der
Opferung des Totemtieres wiederholt wird.
In „Trauer und Melancholie“ wird nun dies
Triumphgefühl über den Vater nach innen gewendet und zeigt sich dort in der
Manie. In der Depression erliegt nach Freud
das Ich den Vorwürfen des Gewissens, des introjizierten
Vaters, während es sich in der Manie stark genug fühlt, das Gewissen zeitweise
beiseite zu schieben, sich von ihm zu befreien und über es zu triumphieren, bis
sich wie nach der Ermordung des Urvaters erneut die Gewissensbisse und Vorwürfe
einstellen. Freud vergleicht die
Manie mit den Gefühlen eines „armen Teufels“, der „durch einen großen Geldgewinn
plötzlich der chronischen Sorge um das tägliche Brot enthoben wird“. Was in der
Manie aufgehoben ist, ist der „Verlust des Objekts (oder die Trauer über den
Verlust oder vielleicht das Objekt selbst)“. „Nun ist der ganze Betrag von Gegenbesetzung,
den das schmerzhafte Leiden der Melancholie aus dem Ich an sich gezogen und gebunden
hatte, verfügbar geworden. Der Manische demonstriert uns auch unverkennbar seine
Befreiung von dem Objekt, an dem er gelitten hatte, indem er wie ein
Heißhungriger auf neue Objektbesetzungen ausgeht.“
Freud war der Meinung, in der Trauer selbst
keine solche Form der Manie entdecken zu können. Den Grund sah er darin, daß die Anerkennung des eingetretenen Todes schrittweise erfolge
und daher die Verlusterfahrung nicht so quälend sei, daß der regressive Mechanismus der Manie eintreten müsse.
Nach der Erfahrung von Melanie Klein
jedoch „sind Triumphgefühle unvermeidlicherweise selbst mit der normalen Trauer
verknüpft und haben eine Verlangsamung der Trauerarbeit zur Folge, oder tragen
vielmehr zu den Schwierigkeiten und dem Schmerz, den der Trauernde erlebt, bei“.
Da die Manie eine Flucht vor dem Zusammenbruch darstellt, kann sie die Arbeit
der Trauer behindern. Im allgemeinen ist sie aber eher
ein aktiver Mechanismus. Caruso beschreibt
dies sehr eindrücklich an dem Problem der Liebestrennung: Das verlorene Objekt muß herabgesetzt und „erschlagen“ werden; erst die Tötung
des Liebesobjekts und die Vernichtung aller Erinnerungen an es können das Gefühl
der Befreiung und Erleichterung vermitteln, die der Manie so eigentümlich ist.
Wie bei der manisch-depressiven
Verhaltensstörung ist es auch im Trauerprozeß nicht
möglich, den Zustand der Befreiung und Erleichterung ständig beizubehalten.
Meist wechselt der Zustand zwischen der depressiven und der freudigen Stimmung.
C. M. Parkes
beschreibt den Fall einer verwitweten Frau, die ständig zwischen dem qualvollen
Suchen nach dem Verstorbenen und einem zeitweise freudevollen Finden schwankt.
Die folgende Fallbeschreibung von Fulcomer beschreibt diesen manischen Zustand bei einem
Trauernden:
Ein junger Geschäftsführer eines Verlages
war bei dem Tod seiner Frau 34 Jahre alt. Nach der Beerdigung fuhr er Verwandte
zur Bahn und kehrte nach Hause zurück, wo seine Schwiegermutter das Abendessen
vorbereitet hatte. Er aß nur wenig und machte sich sofort daran, die Kinder zu
Bett zu bringen. Anschließend begleitete er seine Schwiegereltern ein Stück
Weges zu ihrem Haus und saß dann im Wohnzimmer, ohne etwas zu tun. Am folgenden
Morgen erwachte er munter und aktiv. Er bestand darauf, das Frühstück für die
Kinder zu machen, „gerade, wie es D. (sc. seine
verstorbene Frau Y. S.) getan hatte“.
Er sagte seiner Schwiegermutter: „Mom, ich werde
jetzt gleich am Morgen zur Arbeit gehen. Das wird eine Überraschung für sie
werden, aber je schneller ich zur normalen Arbeit zurückfinde, um so besser.“ Er stürzte in sein Büro und verhielt sich,
als sei nichts geschehen. Seine Mitarbeiter beobachteten, daß
er bemüht war, sich ständig beschäftigt zu halten und die Berührung mit ihnen
zu vermeiden. Sie verhielten sich entsprechend, als habe sich nichts verändert.
Dies Verhalten hielt den ganzen Morgen an. Der Verwitwete verließ früher als
die anderen seine Arbeit für die Mittagspause und kam eher zu ihr zurück.
Hinterher schien er alle Energie verloren zu haben, begann verschiedene
Aktivitäten, z.B. diktierte Briefe, ohne sie zu Ende zu bringen.
Kurz nach vier Uhr veränderte sich sein
Verhalten wieder. Er diktierte mehrere Briefe und sprach mit einem Kollegen
über das Bowling-Treffen am kommenden Freitag. Dieser nahm ihn mit nach Hause,
und der Verwitwete war auf der Fahrt und am Rest des Spätnachmittags in einer
aufgelockerten, fröhlichen Stimmung. Er kehrte nach Hause zurück, bestand
darauf, bei der Vorbereitung zum Abendessen zu helfen und die Kinder ins Bett
zu bringen. Seine Schwiegermutter beobachtete, daß er
sich ständig beschäftigte, dabei aber sehr heiter erschien und den Todesfall
leichter nahm als sie selber. Am nächsten Morgen war der Verwitwete in einer
sehr niedergedrückten Stimmung und aß nur wenig. Er sprach wenig, nur beim
Fortgang zur Arbeit bemerkte er: „Es geht mir schon gut, Mom,
aber manchmal ist es schwierig zu sehen, wie ich ohne D. zurechtkommen soll.“
Im Büro erschien der Mann den ganzen Morgen hindurch niedergedrückt. Er arbeitete,
aber nicht mit der gewohnten Effektivität und Geschwindigkeit. Er sprach nur,
wenn es notwendig war. Er bat einen Kollegen, mit ihm den Lunch einzunehmen, da
er sich so mutlos fühle und Begleitung brauche. Bei dem Lunch, dem sich zwei
Mitarbeiter anschlossen, war er fröhlicher Stimmung. Er schien völlig die
schwierige Situation vergessen zu haben. Auch am Nachmittag war er heiter, arbeitete
wie gewohnt und plauderte mit Kollegen.
Doch als er zu seiner Wohnung zurückkam,
war er wieder ganz offensichtlich depressiv gestimmt. Er nahm seine Geige, um
auf ihr zu spielen, brach aber bald ab. Er versuchte mit den Kindern zu
spielen, war aber dabei sehr verkrampft. Plötzlich erhob er sich, stand am
Fenster, hatte Tränen in den Augen und sagte in eine unbestimmte Richtung: „D., ich muß irgendwie darüber
hinwegkommen.“
Beim Abendessen war er wieder fröhlich
und aktiv. Er sprach mit den Kindern über ihre Zukunft. Am nächsten Morgen
erwachte er in munterer Stimmung und berichtete, er habe zum erstenmal gut geschlafen. Kurz vor dem Lunch bemerkte ein
Kollege, wie er von neuem niedergedrückt zu sein schien. Doch während der
Mittagspause mit anderen, während der restlichen Arbeitszeit und später zu
Hause zeigte er sich in heiterer Stimmung und hatte nur kurze depressive
Momente. Als er sich nach dem Abendessen entspannte, kehrte die Depression
zurück.
In den folgenden zwei Wochen hatte der
Verwitwete kurze Perioden einer tiefen Depression, aber sie traten nicht jeden
Tag auf. Während der Arbeitszeit hielt er sich ständig beschäftigt und blieb
dabei heiter. Er suchte, seine früheren Kontakte wieder aufzunehmen, war aber
nicht offen genug, sich wie früher an ihnen zu erfreuen.
Diese Fallbeschreibung zeigt neben dem
Wechsel von depressivem und manischem Verhalten eine Hypermotilität
während der manischen Phase. Sie bestätigt die allgemein anerkannte Beobachtung
Lewins, daß
manische Personen charakterisiert seien „durch die umfangreichen Unternehmungen,
die sie in den täglichen Angelegenheiten zeigen; sie überfüllen ihre Zeit mit unzusammenhängenden Tätigkeiten, stürzen sich heftig in Hobbys,
sexuelle Affären oder Geschäftsangelegenheiten, um sie dann alle abrupt mit
einem eindrücklichen plötzlichen Verlust an Interesse fallen zu lassen“.
Zugleich zeigt die obige
Fallbeschreibung, daß manisches Verhalten dazu
beitragen kann, die Trauerarbeit nicht in einer angemessenen Weise zu
bewältigen. Die Perioden des depressiven Verhaltens werden zwar allmählich
kürzer und weniger häufig. Dies ist aber offenbar nur möglich, indem die
Erinnerung an den Toten gewaltsam unterdrückt wird: die Entschuldigung des
Betroffenen gegenüber der Toten, er könne sich nicht anders verhalten, wenn er
über den Verlust hinwegkommen wolle, zeigt, wie sehr sich der Trauernde über
die Gewaltsamkeit seines Tuns bewußt
ist. Der Tote wird verstoßen, er wird nicht aufgenommen.
(2) In „Massenpsychologie und Ich-Analyse“
(1921) hat Freud die Manie verstanden
als ein Niederhalten des Ichideals, hat aber zugleich
diese Interpretation erweitert: „Es kommt immer zu einer Empfindung von Triumph,
wenn etwas im Ich mit dem Ichideal zusammenfällt“;
damit war der Weg eröffnet, die Manie als Fusion von Ich und Über-Ich zu
verstehen. Radó
erläutert diese Fusion, indem er sie als eine Wiederholung der Erfahrung
verstand, die der Säugling an der Brust seiner Mutter macht: Er wird eins mit
dem guten Objekt, das die Mutter darstellt. Wie die Selbstbestrafung in der
Depression eine Versöhnung mit dem Liebesobjekt mit sich bringt, so folgt auf
den Hunger der Rausch der Sättigung. Das Ich gewinnt sein Selbstvertrauen
wieder, indem es phantasierend in der Manie die frühkindliche Sequenz von
Ärger, Hunger und Befriedigung an der Brust des Liebesobjektes wiederholt.
Diese Fusion vom Ich und der Mutter, die
für Radó und
Lewin stellvertretend für das
Ich-Ideal und für jedes Liebesobjekt steht, wird bei Lewin in eine „oral triad“ aufgeteilt.
Die orale Triade besteht in dem Wunsch, das Liebesobjekt in sich aufzunehmen,
in dem Wunsch, von ihm verzehrt zu werden, und in bestimmten Formen des Schlafes.
Die beiden ersten Mechanismen brauchen uns an dieser Stelle nicht zu beschäftigen;
sie werden weiter unten unter dem Bewältigungsmechanismus der Inkorporation
behandelt. Dagegen ist es an dieser Stelle wichtig, auf den von Lewin beobachteten Zusammenhang von
Manie und Schlaf einzugehen. Freud
hatte bereits in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921) auf den
Zusammenhang von Manie und Schlaf verwiesen, denen beiden gemeinsam sei, daß hier Ich und Über-Ich weitgehend zusammenfallen. Lewin sieht nun die Genese dieser
Verbindung in dem tiefen, seiner Annahme nach traumlosen Schlaf, in den das
Kleinkind nach der oralen Befriedigung fällt. Erst mit der verstärkten
Wahrnehmung der Umwelt und erweiterten Wünschen wird der „satte“ Schlaf von
einem Schlafen abgelöst, in dem sich im Traum die Tageserinnerungen und die verdrängten
Wünsche bemerkbar machen. Erwachsene, auch im regressiven Stadium der Manie,
werden kaum einen solchen Schlaf der traumlosen Befriedigung erleben, aber doch
Träume mit einer fröhlichen Stimmung, in denen viel gespielt wird wie in der „unschuldigen“
Kindheit. Der Ideenflucht am Tage entspricht eine „Traumflucht“ in der Nacht,
in der sich viele Szenen sehr rasch ablösen.
„Guter“ Schlaf als das Ergebnis einer
Befriedigung kann in der regressiven Phase der Manie den Wunsch wachwerden
lassen, durch Sterben mit dem verlorenen Liebesobjekt wiedervereinigt zu
werden. Wie es einen „guten“ Schlaf gibt, gibt es auch einen „guten“ Tod, der
als ein Nirwana-Zustand und als ein Ort befriedeter Ruhe gut.
Wie im „guten“ Schlaf sind im „guten“ Tod
Ich und Über-Ich, Ich und verlorenes Liebesobjekt wieder miteinander vereinigt.
Wie Bibring
schreibt, sind die Selbstmordphantasien über den „guten“ Tod ohne Anzeichen von
Aggression und Selbstzerstörung. „‚Das Ich läßt sich
sterben.’ Der Tod bedeutet Schlaf und Friede, eine Art Nirwana. Sterben ist identisch
mit dem Bedürfnis, nicht mehr ein ‚Ich’ zu sein; aber es ist nicht das Bedürfnis,
das eigene Selbst grausam zu zerstören oder zu bestrafen. Ein junger
Mann wollte im Eis und
Schnee seiner geliebten
Berge einschlafen und erfrieren;
ein anderer hatte
das Verlangen, bis
zur Erschöpfung in einen See hinaus zu schwimmen und müde und friedvoll
unterzugehen. Ein junges Mädchen hatte, sooft sie depressiv gestimmt war, die
Phantasie, daß sie im Meer ertrinken und ihr Körper sich
im Ozean auflösen, in ihm ‚aufgehen’ würde.“ Bibring versteht dies als den unbewußten Wunsch, in den Mutterleib zurückzukehren und das
eigene Ich in einem allmächtigen Medium aufgehen zu lassen.
Martha
Wolfenstein
schildert den Fall eines 15jährigen Mädchens, dessen Mutter plötzlich an einem
Gehirnschlag starb. Die Bewältigung ihres Todes wurde dadurch erschwert, daß das Mädchen gerade in einer intensiven Phase der Lösung
von der Mutter stand. Diese doppelte Trennung bewirkte eine Umkehr der
pubertären Lösung und den Übergang in eine auffällige Regression. Am Vorabend
des eigenen Geburtstages machte sie eine lange Wanderung durch die frühlingshaften
Felder und verfiel in eine träumerische Euphorie, eine Art von ozeanischem
Gefühl. Wolfenstein
interpretiert dieses Gefühl des Einsseins mit der Natur als eine symbolische
Realisation des Wunsches, mit der Mutter wiedervereinigt zu werden. Sie
schließt dies aus der heftigen Enttäuschung, die das Mädchen bei seiner
Rückkehr empfand, als sie nur den trauernden Vater vorfand, dessen Anblick ihr
bestätigte, daß ihr Wunsch nicht wahr werden würde.
Andere Fallbeispiele, in denen Tod als
Wiedervereinigung verstanden wird, berichten Friedlander und Brodsky. Friedlander behandelte einen 29jährigen
Mann, der zu sterben verlangte, teils als Wunsch zu schlafen, teils als
Bedürfnis, mit seinem toten Bruder und seiner (noch lebenden) Mutter vereinigt
zu werden. Brodsky beschreibt einen
Leukämie-Patienten, der durch Phantasien über die glückhafte Wiedervereinigung
mit seinem toten Bruder den Versuch machte, die Angst vor dem Sterben abzuwehren.
Unter den mehr oder weniger bewußten Gründen, die Moss und
Hamilton als Motivation für den
Selbstmord aufdeckten, war einer der wesentlichen die Hoffnung auf eine größere
zukünftige Befriedigung, unter Einschluß der anhaltenden
Wiedervereinigung mit dem toten Liebesobjekt. Im „Buch der Lieder“ beschreibt H. Heine diesen Wunsch nach
Wiedervereinigung:
Mein süßes Lieb, wenn du im Grab
Im dunklen Grab wirst liegen,
Dann will ich steigen zu dir herab,
Und will mich an dich schmiegen.
Ich küsse, umschlinge und presse dich
wild,
Du Stille, du Kalte, du Bleiche!
Ich jauchze, ich zittre, ich weine mild,
Ich werde selber zur Leiche.
Wir werden im theologischen Abschnitt
noch darauf verweisen, wie religiöse Vorstellungen den Wunsch nach einer
Wiedervereinigung durch Selbstmord oder Sich-sterben-Lassen
verstärken können.
(3) Die dritte Form der Manie, die sich
neben der zeitweisen Überwindung eines feindseligen Über-Ichs
und der Fusion von Ich und Ich-Ideal zeigt, ist das Gefühl der
Erleichterung, wenn der Trauernde den Eindruck gewinnt, den Verlust weitgehend
überwunden zu haben. Es zeigt sich bei den weniger Betroffenen in der
uneingestandenen Befriedigung, noch einmal davongekommen und dem Tode entronnen
zu sein, als ein befriedigendes Gefühl, das keineswegs allein ältere Menschen
aus Todesanzeigen und aus der Teilnahme an Begräbnissen gewinnen. Auch der
Trauernde mag solche Erfahrungen machen; das wirkliche Gefühl der Erleichterung
stellt sich für ihn aber erst dann ein, wenn er den Eindruck gewinnt, den
Verlust weitgehend überwunden zu haben. Wenn in der Stressforschung von Manie gesprochen
wird, dann ist stets diese Variante der Manie gemeint, die Erfahrung, ein
stressvolles Ereignis überstanden und selbst dabei überlebt zu haben. So hat M. Wolfenstein
die euphorische Stimmung von Personen analysiert, die eine Katastrophe
unversehrt überstanden hatten. Janis
nennt die manischen Formen des Triumphes und der Fusion eine Pseudo-Erleichterung
als eine Verteidigung gegen schmerzliche innere Stimuli, während er als Streßforscher nur die „emotionale Erleichterung, die einer
Beendigung der Belastung folgt“ untersucht, so etwa nach einer glücklich
überstandenen Operation.
Abraham, der sich in der Darstellung der pathologischen
Manie in starkem Maße von Freud beeinflußt zeigt, hat in der Trauer ausschließlich die
Erleichterung angesichts gelungener Adaptation herausgestellt.
„Man beobachtet nämlich, daß der Trauernde, der mit Hilfe der ‚Trauerarbeit’ allmählich
seine Libido von dem Verstorbenen ablöst, zugleich mit dem Gelingen dieser Ablösung
ein gesteigertes sexuelles Begehren spürt. Dieses kommt auch in sublimierter
Form zum Ausdruck durch erhöhte Unternehmenslust, Erweiterung des geistigen Interessenkreises
usw. Die Steigerung des libidinösen Begehrens kann, je nach dem individuellen
Ablauf der Trauerarbeit, kürzere oder längere Zeit nach dem erlittenen Objektverlust
einsetzen.“
Yorick Spiegel, Der
Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung (1973), München: Kaiser 21973,
S. 202 ff.