Der Mechanismus: Suchen
Der defensive Mechanismus des „Suchens“ enthält zwar die
Anerkennung einer Trennung, aber diese Trennung wird nicht als endgültig
angesehen. Nach der Annahme des Trauernden hat sich das Liebesobjekt nur zeitweise
entfernt. Er ist davon motiviert, weiterhin auf die Rückkehr des Verlorenen zu
warten oder unbewußt oder halbbewußt
die Suche nach ihm aktiv zu betreiben.
Es war vor allem J. Bowlby, der
durch seine Untersuchung über die Trennungsreaktionen von Kindern auf diesen
Bewältigungsmechanismus aufmerksam wurde. Beginnt die Abwesenheit der Mutter
das Kind zu beunruhigen, so fängt es an, nach ihr zu suchen. Bowlby glaubt nachweisen
zu können, daß dieses kindliche Verhalten angesichts
der Trennung von einer signifikanten Person bei Erwachsenen reaktiviert wird.
Es sind vor allem drei Reaktionsformen, in denen sich die Suche nach dem verlorenen
Objekt ausdrückt, nämlich (1) die scheinbar ziellose Überaktivität, (2) das
Herbeirufen des Verstorbenen und (3) das Herumwandern in der Hoffnung, ihn zu
treffen.
(1) Eine der auffälligsten Änderungen,
die Lindemann bei Trauernden
feststellte, war eine Aktivität, die während des ganzen Tages anhielt. „Handeln
und Sprechen waren nicht verlangsamt; ganz im Gegenteil bestelltem starker
Drang zu sprechen, vor allem, wenn das Gespräch von dem Verstorbenen handelt.
Es zeigt sich Ruhelosigkeit, die Unfähigkeit stillzusitzen, daneben findet sich
ein zielloses Sichbewegen, ein ständiges Suchen, um etwas
zu tun. Gleichzeitig jedoch zeigt sich eine schmerzliche Unfähigkeit, eine
Tätigkeit zu beginnen und ein organisiertes Verhaltensmuster durchzuhalten.“
Auch bei neurologischen Untersuchungen zeigt sich statt des apathischen und
depressiven Verhaltens, das man erwarten würde, vielfach eine erhöhte Aktivität.
Man wird dies Verhalten zum Teil auf die
bereits früher beschriebenen „vacuum activities“ zurückführen können. Parkes nimmt mit Recht an, daß das überaktive Verhalten der Trauernden durchaus nicht,
wie Lindemann meint, ziellos sei. Es
erscheine nur so, weil der Trauernde mit all seiner Tätigkeit nicht erreicht,
was er wünscht, nämlich die verstorbene Person wiederzufinden. Nicht immer ist
dem Trauernden das Ziel dieser Hypermotilität bewußt, doch kann Parkes in seiner Untersuchung auch Äußerungen der
Betroffenen selbst anführen, die seine Annahme bestätigen. So sagte eine der
verwitweten Frauen: „Ich wandere herum und suche ihn ... Ich habe das Gefühl,
wenn ich irgendwo hinkommen könnte, so könnte ich ihn finden“; eine andere bemerkt:
„Ich gehe zum Grabe, aber dort ist er nicht.“
(2) Nicht selten ist das Rufen nach dem
Verstorbenen, insbesondere in der Phase des Schocks, aber auch später noch. „Dwight,
wo bist du? Ich brauche dich so sehr“, schreibt Frances Beck in ihrem „Tagebuch einer Witwe“. Solches Rufen nach
dem Verstorbenen ist, wie bei Kindern, oft mit Weinen verbunden, aber es ist
kein Weinen, das vom Gefühl der Hilflosigkeit bestimmt ist, sondern ist, wenn
man die Interpretation von Bowlby akzeptiert, ein „instrumentelles“ Weinen, das den Verstorbenen
herbeizwingen soll.
(3) Schließlich ist noch die aktive Suche
nach dem Verstorbenen zu nennen; der Trauernde sucht Straßen und Orte auf, an
denen er mit ihm zusammengewesen ist. Manche wandern zu dem Krankenhaus, in dem
der geliebte Mensch starb, um sich dann klarzumachen, daß
sie ihn dort nicht mehr finden können. Lange erhalt sich die unausgesprochene
und halbbewußte Hoffnung, dem Verstorbenen auf der
Straße zu begegnen. Dabei kommt es oft zum Konflikt mit dem Bedürfnis, alles zu
vermeiden, was an den Toten erinnert. Es kann geschehen, daß
der Trauernde die verschiedenen Orte aufsucht, um dort den Toten zu finden.
Aber die Erinnerungen an frühere glückliche Zeiten, die beide dort verbracht
haben, sind oft so schmerzlich, daß er rasch wieder
flüchtet. Zuweilen wird der Ort immer wieder aufgesucht, an dem man den Toten
zum letzten Mal sah. Eine dem Verfasser bekannte Psychologin durchwanderte
immer wieder den Odenwald, wo vor fast dreißig Jahren während eines Ferienaufenthaltes
ihr Vater wegen politischer Äußerungen denunziert und verhaftet wurde; von da
an blieb er verschwunden und kam vermutlich in einem KZ ums Leben.
Das Suchen nach dem verlorenen Objekt
findet sich vor allem in der regressiven Phase und tritt in der adaptiven
zurück. Der Abwehrmechanismus kann aber auch in seiner regressiven Form
resistent werden. In mehreren Beiträgen ist E.
Stengel der Psychopathologie des zwanghaften
Wanderns nachgegangen, das er als einen unwiderstehlichen Impuls bezeichnet,
die Wohnung zu verlassen und ziellos herumzuwandern. Dieser Zustand, der gewöhnlich
begleitet ist von einer Veränderung der geistigen Verfassung, kann Stunden oder
gar Tage dauern. Meist ist die begleitende Stimmung die der Depression,
manchmal die der Manie. Es wird wenig gegessen, und das Bedürfnis nach Schlaf
ist sehr gering. Stengel
glaubt nachweisen zu können, daß bei solchen Personen
„gewöhnlich die Beziehungen zu einem Elternteil oder zu den Eltern überhaupt
entweder völlig fehlten oder nur teilweise entwickelt waren“, da sie früh verstorben
oder von dem Kind getrennt waren. Bei einigen Patienten war der Wunsch sehr
ausgeprägt, die toten Eltern wiederzufinden. Stengel
konnte beobachten, daß bei einigen seiner Patienten
diese Sehnsucht unmittelbar vor und während der Flucht lebendig wurde. Es kam
die Vorstellung auf, daß der tote Mann nicht wirklich
tot sei, sondern lebe, und man ihn vielleicht bei der Wanderung treffen könne.
Der Bewältigungsmechanismus des „Suchens“
wird insbesondere bei Fallbeschreibungen von Kindern erwähnt. Dies ist
naheliegend, da für Kinder die Trennung von einer geliebten Person und das
Sterben zumeist schwer unterscheidbar sind, insbesondere dann, wenn sie sich
nicht persönlich von der Realität des Todes (z.B. durch die Teilnahme an der
Beerdigung) überzeugen können. Eindrückliche Fallbeispiele bringt Edith Jacobsen, von denen eines
besonders deutlich zeigt, wie das Warten auf die Wiederkehr der verstorbenen
Mutter auch noch im Erwachsenenalter erhalten bleibt.
„Robert war ein verheirateter Mann in den Dreißigern. Er
hatte seine Mutter bei der Geburt eines Bruders verloren, der ebenfalls starb.
Robert selbst war zu der Zeit am Ende der ödipalen Phase. Als das tragische
Ereignis eintrat, wurde das Kind völlig ignoriert. Er wußte,
daß seine Mutter wegen eines neuen Babys ins
Krankenhaus gebracht worden war, wurde aber über den Tod nicht informiert. Er
wurde zu Verwandten für einige Zeit gebracht, fand sich in einer Umgebung mit
trauernden Angehörigen, erhielt aber von niemanden eine Aufklärung über das
Verschwinden der Mutter. Die Mitteilung, seine Mutter sei nun ein Engel, ließ
das Kind die Phantasie einer aufs äußerste glorifizierten, ziemlich mystischen,
engelhaften Mutter entwickeln.
Robert wuchs bei einer Großmutter auf,
während der Vater sich eine Wohnung für sich nahm und mit zahlreichen
Freundinnen verkehrte. Das Kind begann eine romantische Familienvorstellung zu
entwickeln, nach der es das Kind einer aristokratischen englischen Familie war.
Dies begann sich bei dem Heranwachsenden in Kleidung und Verhalten
auszudrücken, und er heiratete auch nach dem Tode seines Vaters ein Mädchen aus
einer sozial höher gestellten Familie.
Er kam in die Analyse wegen Depressionen
und Depersonalisationserscheinungen. Er hatte wilde
Phantasien über die Schwangerschaft und den Tod seiner Mutter. Er äußerte den
Verdacht, der Vater habe die Mutter und das Kind ermordet, oder die Mutter habe
den Vater wegen seiner Unmoral verlassen. Wie fest der Glaube an das Verlassen
der Mutter war, zeigte sich darin, daß er berichtete,
er würde jeden Morgen zum Briefkasten gehen in der Erwartung, einen ‚bestimmten’
Brief zu erhalten. Jedesmal war er enttäuscht, wenn
dieser ‚bestimmte’ Brief nicht eingetroffen war. Der mysteriöse Brief, auf den
er bereits wartete, solange er sich erinnern konnte, war ein Brief von seiner
Mutter und seinem Bruder, die, wie er vermutete, an einem fernen Ort lebten und
durch diesen Brief ihre Rückkehr ankündigten.“
Wie Edith
Jacobsen beobachtete, entwickelten nahezu alle ihre Patienten, die als
Kinder ganz oder teilweise verwaist waren, eine blühende „family
romance“, die darin bestand, daß
die Eltern zurückkommen und sich als reich, begabt oder adlig herausstellen.
Von diesen Eltern waren sie einst getrennt worden und mit ihnen würden sie dann
wieder vereinigt werden. Diese Phantasien motivierten sie vielfach, wie im Fall
von Robert, nach Familien und Personen zu suchen, die ihren Vorstellungen
entsprachen.
Solche Phantasien über eine besondere
Kindheit, wo „Heaven lay about us in infancy“
(Wordsworth),
finden sich auch vielfach, wie Martha Wolfenstein herausstellt, bei jungen Heranwachsenden,
die im Übergang der Trennung von ihren Eltern stehen. Sie entwickeln ein
Heimweh über die verlorene Kindheit, die angesichts der unausweichlichen
Trennung aufgewertet wird. Wolfenstein glaubt, daß in der
Trauer von Erwachsenen das Heimweh (Nostalgie) nach dem „goldenen Land der
Kindheit“ wiederbelebt wird und ein Verlangen und Suchen danach einsetzt,
diesen verlorenen Zustand wiederzugewinnen.
Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns.
Analyse und Beratung (1973), München: Kaiser 21973, S. 195 ff.