Der Mechanismus: Verleugnung
In der Literatur über die Trauerarbeit wird der Mechanismus der
Verleugnung als einer der wesentlichen Bewältigungsmechanismen angesehen. So
hat G. Krupp herausgestellt: „Der
Abwehrmechanismus der Verleugnung kann vielfach das Individuum vor einem
völligen Auseinanderfallen angesichts des umfassenden Eindrucks des Schocks
bewahren.“ Im allgemeinen wird in der psychoanalytischen Literatur von
Verleugnung gesprochen, wenn ein Vorgang in der Außenwelt, der unangenehme
Folgen für das Ich hat, entweder überhaupt nicht gesehen, nicht anerkannt oder
in seiner Bedeutung herabgesetzt wird.
Nun handelt es sich bei der Verleugnung eines Todesfalles nicht
nur um eine Verleugnung der äußeren Realität, sondern auch um eine Verleugnung
von nunmehr unerfüllten Triebansprüchen des Es, ein Vorgang, der im allgemeinen als Verdrängung bezeichnet wird. Verleugnung der
äußeren Realität und Verdrängung der Triebansprüche wirken in der Trauer eng
zusammen, wobei je nach Individuum stärker der Bewältigungsmechanismus der
Verleugnung oder der Verdrängung eingesetzt wird. Verleugnung und Verdrängung
sind in der Trauer so universal, daß sie faktisch in
jedem der hier behandelten Bewältigungsmechanismen, insbesondere den narzißtischen, vorkommen. Abbau der Wahrnehmungskontrolle
kann als eine Verleugnung der Realität bezeichnet werden, soweit sie durch die
Sinnesorgane Sehen, Hören und Fühlen wahrgenommen wird. Die an dieser Stelle zu
behandelnden Abwehrmechanismen der Verleugnung und Repression sind hier
definitorisch beschränkt auf die kognitive und emotionale Funktion der
psychischen Organisation. Stärker als bei dem Abbau der Wahrnehmungskontrolle
wird der Tod intellektuell akzeptiert, aber in seiner emotionalen Bedeutung verdrängt
und verleugnet oder umgekehrt. Folgende Kombinationen von Verdrängung und Verleugnung
sind in der Trauer zu beobachten:
(1) Meidung: Der
Trauernde kann die Realität des Todes nur dadurch weiterhin leugnen, daß er alles meidet, was ihn an den Verlust erinnern könnte;
(2) Mumifizierung: Der Tod wird akzeptiert, aber es wird geleugnet, daß sich damit auch eine Veränderung der Umgebung ergibt;
der Tote wird „mumifiziert“; (3) Kognitive Verleugnung: Der Tod wird
intellektuell nicht akzeptiert, wohl zeigt sich aber eine Traurigkeit, ohne daß ihr Ursprung bewußt wird; (4)
Emotionale Repression: Der Tod wird intellektuell anerkannt, aber der
Hinterbliebene fühlt sich unfähig, irgendwelchen Schmerz zu empfinden; (5) Verschiebung:
Der Verlust wird intellektuell akzeptiert, kann aber emotional nicht
verarbeitet werden und wird auf sekundäre Trauersymptome (u. a. somatischer
Natur) verschoben; (6) Leugnung in der Phantasie: Zwar wird der Tod
intellektuell und zum Teil auch emotional akzeptiert, zugleich entwickelt sich
daneben eine üppig wuchernde Phantasie, er sei doch nicht eingetreten; (7) Ichspaltung: Der Tod wird voll akzeptiert,
aber in einem abgegrenzten Bereich der psychischen Organisation geleugnet; der
Tote wird weitgehend von ihr isoliert.
(1) Meidung: Hat der Abwehrmechanismus des Verleugnens
überwiegend die Form des Meidens, dann bedeutet dies, daß
der Trauernde versucht, allem aus dem Wege zu gehen, was ihn an den Verlust
erinnern könnte. Er verzichtet darauf, den Verstorbenen noch einmal zu sehen
und wünscht, daß die Beerdigung möglichst kurz
gehalten wird. Er versucht, den Kontakt mit dem Pfarrer und dem Arzt nach
Möglichkeit zu vermeiden, weil sie für ihn den Tod repräsentieren und er befürchten
muß, daß sie auf den
Verstorbenen zu sprechen kommen. In der Familie und seiner sozialen Umwelt
zieht er sich zurück, wenn das Gespräch auf den Toten kommt, und kann im
Extremfall verbieten, daß in seiner Umgebung überhaupt
über diesen gesprochen wird.
Während in der regressiven Phase die
Meidung eine sinnvolle Verhaltensweise sein kann, um den massiven Schock des
Todes abzufangen, führt sie in der adaptiven zu einem Verhalten, das die
Angehörigen als unangemessen oder merkwürdig empfinden. Der Trauernde verzichtet
z.B. darauf, die Grabstätte zu besuchen. G.
Wretmark berichtet von einem jungen Mädchen, das
sich weigerte, an den Tod seiner Mutter zu
glauben, da es sie nie im Sarg gesehen habe. Wenn es den Friedhof
besuchte, ging es am Grab seiner Mutter vorbei, als habe es nichts mit ihr zu
tun, und legte Blumen auf das Grab seiner Großeltern, das nicht weit davon
entfernt war. In einem Seminar mit Pfarrern wurde von einem verwitweten älteren
Mann berichtet, der seine Angehörigen zwar im Auto begleitete, wenn sie das
Grab seiner Frau besuchen wollten, aber dann vor dem Friedhof auf ihr Zurückkommen
wartete. Pollock
berichtet von weiteren Fällen einer solchen Meidung, bei denen ein Elternteil
vor dem sechsten Lebensjahr verstorben war. In jedem dieser Fälle besuchten die
Patienten niemals den Friedhof, auf dem ihr Vater oder ihre Mutter begraben
waren. Sie hatten zudem eine Amnesie, die bis zu mehreren Monaten nach der
Todesnachricht anhielt.
(2) Mumifizierung: Eine Verleugnung liegt auch dort vor, wo
der Tod zwar akzeptiert wird, aber zugleich die Umgebung, in der der Tote
gelebt hat, unverändert erhalten wird und zum Teil auch Verhaltensweisen
beibehalten werden, die vorgeben, er sei nicht gestorben. Gorer spricht hier von „mummification“ in einem übertragenen Sinne. Das Haus wird
so gehalten, wie es der Verstorbene verlassen hatte, und jedes Stück bleibt an
seinem Platz, als sei es ein Schrein, der jeden Augenblick wiederbelebt werden
könnte. Das bekannteste Beispiel aus der englischen Geschichte ist Queen Victoria, die nicht nur alle
Gegenstände so beließ, wie Prinz Albert
sie hinterlassen hatte, sondern auch auf dem täglichen Ritual bestand, daß seine Kleidung zurechtgelegt, das Rasierwasser gebracht
und beim Essen zwei Gedecke aufgelegt wurden.
Ein typischer Fall von „Mumifizierung“
wird bei Jackson berichtet. Zwei
Schwestern hatten ihr ganzes Leben zusammengelebt. Als die eine der beiden
Damen starb, die stärker die männliche Rolle übernommen hatte, war die
Überlebende von ihrem Tod nicht zu überzeugen:
„Sie ging durch alle Ereignisse der
Beerdigung und durch die nächsten Tage mit einem Lächeln und einem ermunternden
Wort für jedermann. Immer wieder hörte der Pfarrer, wie sie zu ihren Freunden
sagte: ‚Ruth ist nicht wirklich tot. Mein Glaube läßt
sie nicht sterben. Ich glaube, sie ist immer noch hier um mich herum, auch wenn
ich sie nicht sehen kann. Warum sollte ich traurig sein? Wir werden immer
zusammen sein!’ Als die Zeit verging, wurde das Muster ihrer Lebensführung
deutlich. Sie behielt das Spiel von der Anwesenheit ihrer Schwester in voller
Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit aufrecht. Am Tisch wurden stets zwei Plätze
gedeckt, und obgleich kein Essen der verstorbenen Schwester gereicht wurde,
erklärte sie: ‚Im Geistkörper brauchen wir keine Nahrung. Wir wollen nur nicht
übergangen werden.’ Frische Blumen standen stets in dem Schlafzimmer ihrer
Schwester. Ihre Kleider hingen unberührt im Schrank, außer wenn sie
gelegentlich gereinigt wurden. Soweit dies bewerkstelligt werden konnte, wurde
die geistige Gegenwart der Schwester vorausgesetzt. Wenn Gäste kamen, pflegte
sie zu sagen: ‚Ich weiß, Ruth würde mich bitten, Euch für Euer Kommen zu
danken.’ Wenn Weihnachtsgeschenke und -karten versandt wurden, waren sie gezeichnet
mit ‚Minnie und Ruth’.“
Der Verfasser erinnert sich aus seiner
praktischen Tätigkeit an ein anderes Beispiel dieser Art. Eine Mutter hatte
durch einen Unfall ihren 20jährigen Sohn verloren, der als Radsportler eine
große Anzahl von Siegeskränzen mit nach Hause gebracht hatte. Sie hingen in
seinem Zimmer, an dem Jahre hindurch nichts verändert worden war. Dadurch
gewann das Zimmer den Eindruck einer Grabkammer, in der die Siegeskränze zu Totenkränzen geworden waren.
In der regressiven Phase der Trauerarbeit
ist es durchweg therapeutisch wertvoll, die äußeren Umstände nicht zu sehr zu
verändern. Das Ich des Trauernden muß so viele
Umstellungen vornehmen, daß es eine Entlastung bedeutet,
wenn seine unmittelbare Umwelt konstant bleibt. Das gilt vor allem für Kinder,
die zusätzlich belastet werden, indem man sie während der ersten Trauerzeit zu
Freunden oder Verwandten schickt, aber auch für alte Menschen, deren
Adaptationsfähigkeit gemindert ist. Für sie kann eine Umsiedlung die
Sterblichkeitsrate signifikant erhöhen. In der adaptiven Phase dagegen muß sich die Erkenntnis durchsetzen, daß
auch die Umwelt sich verändert hat, nicht nur das Verhältnis zum Verstorbenen.
(3) Kognitive Verleugnung: Es kann der Tod dadurch verleugnet werden,
daß er intellektuell nicht anerkannt wird. Der
Betroffene empfindet eine tiefe Traurigkeit, kann sich aber ihre Ursache nicht
erklären. Daß Konflikte der Kindheit verdrängt
werden, indem sich der Patient nicht mehr erinnern kann, ist ein aus der psychoanalytischen
Arbeit bekannter Vorgang. Oft kann ein Patient in der Analyse große Teile
seiner Kindheit mit vielen Einzelheiten sehr lebendig erinnern, während er bei
anderen, gerade den konfliktträchtigen und pathogenen, einer totalen Amnesie
unterliegt.
Helene
Deutsch berichtet von
einer Patientin in den mittleren Jahren, die aus unerklärlichen Gründen zu
Beginn jeder analytischen Sitzung bittere Tränen vergoß.
Ihr Weinen war nicht zwanghaft, sondern ruhig und sanft, aber ohne Bezug. In
Situationen dagegen, in denen man Trauer hätte erwarten können, war ihr
Verhalten extrem kontrolliert und ausdruckslos. Sie zeigte sich überaus
bereitwillig, die traurigen Erfahrungen mit anderen zu teilen und konnte in
eine tiefe Depression verfallen, wenn einem Bekannten etwas Unglückliches
zustieß. Sie reagierte mit intensiver Besorgnis und Sympathie, besonders wenn
es sich um Krankheit oder Tod in ihrem Freundeskreis handelte. In der
analytischen Arbeit ließ sich diese Traurigkeit zurückführen auf eine Trauererfahrung in ihrer Jugend; allerdings war nicht der
Tod, sondern die Scheidung ihrer Eltern das traumatisierende
Ereignis, das für sie aber in keinem Zusammenhang mit ihren Gefühlen stand. Deutsch hält das Verhalten dieses Mädchens
für extrem, glaubt aber, daß eine solche
Reaktionsweise auf einen bedeutenden Verlust in abgeschwächter Form nicht
selten vorkommt.
(4) Repression von Emotionen: Eine weitergehende Verleugnung des Todes
liegt dann vor, wenn zwar die Tatsache des Todes rational anerkannt wird und
der Trauernde sich entsprechend verhält, sie aber emotional verdrängt und darum
auch keine Traurigkeit empfindet. Der Vorstellungsinhalt bleibt bewußt, aber der dazugehörige Affekt oder die Bedeutung
dieser Bedrohung wird verdrängt.
Was W.
Schulte als einen Kern melancholischen Erlebens bezeichnet, trifft auch in
bestimmten Fällen für Trauernde zu: Nicht-traurig-sein-Können.
Schulte berichtet von einem Melancholiker,
dessen Sohn Selbstmord beging. Den Versuch des Arztes, seine Anteilnahme auszusprechen,
wehrt er ab: Es sei ja das Furchtbare, daß er gerade
nichts empfinden könne. Erst bei Abklingen der depressiven Phase kann der
Betreffende weinen und Trauer ausdrücken, ähnlich, wie dies bei einem Hinterbliebenen
erst in der adaptiven Phase möglich ist, wenn seine gefühlsmäßige Verleugnung
nicht mehr von seiner rationalen Einsicht getrennt ist. Es ist die „Nichterfüllung
gleichsam eines Gefühlssolls“, die als quälend empfunden wird. In diesem
Beispiel wie in ähnlich gelagerten Fällen ist der Trauerprozeß
auf längere Zeit hindurch inhibiert geblieben. Die Trauerarbeit ist nicht in
Gang gekommen, aus Gründen, die sich bei dem vorliegenden Bericht nur vermuten
lassen.
(5) Verschiebung: Die Verneinung des Todes und die
Unfähigkeit zu trauern können sich darin ausdrücken, daß
die Trauerexpression sich allein in psychosomatischen Symptomen oder in einer
Erkrankung manifestiert. Dies ist durch Karl
Stern et al. bei älteren Menschen beobachtet worden. Stern schreibt: „Unter bestimmten Umständen ist der alte Mensch
eher geneigt, Material, das offen emotionalen Konflikt hervorrufen würde, in
somatische Erkrankung zu kanalisieren.“ Freilich ist seine Argumentation an
diesem Punkt nicht kohärent. Er sieht zwar einerseits den Grand einer solchen
Verschiebung darin, daß das Ich des alten Menschen Verlust
nicht mehr angemessen verarbeiten könne. Ich-Schwäche würde danach die Verleugnung
in Gang setzen, die dann Trauer nur in Gestalt von Erkrankung gestattet. Andererseits
erwägen Stern et
al. die Erklärung, es handele sich hier entweder um Strafbedürfnis oder Identifikation
mit dem Toten; dann würde der Untersuchungsbefund bedeuten, daß
ältere Menschen anstelle der Verleugnung eher andere defensive Mechanismen
verwenden.
(6) Leugnung in der Phantasie: Insbesondere bei Kindern, bei denen die
Realitätskontrolle noch nicht zur vollen Durchsetzung gekommen ist, kann es geschehen,
daß die Realität zwar wahrgenommen, aber in der
Phantasie verneint wird. S. Freud
formuliert diesen Vorgang in den „Zwei Prinzipien psychischen Geschehens“: „Mit
der Einsetzung des Realitätsprinzipes wurde eine Art
Denktätigkeit abgespalten, die von der Realitätsprüfung freigehalten und allein
dem Lustprinzip unterworfen blieb. Es ist dies das Phantasieren, welches
bereits mit dem Spielen der Kinder beginnt und später als Tagträumen fortgesetzt
die Anlehnung an reale Objekte aufgibt.“ Edith
Jacobsen hat in ihrer umfangreichen Fallbeschreibung „The
Return of the Lost Parent“ den
Weg der Entwicklung verfolgt, die diese Form der Verleugnung bis ins
Erwachsenenalter hinein nimmt.
(7) Ichspaltung:
Freud hat in seinen fragmentarischen Manuskripten
„Die Ichspaltung im Abwehrvorgang“ (1938) und „Abriß der Psychoanalyse“ (1938) auf den Vorgang der Verleugnung
durch eine Ichspaltung hingewiesen. Am Beispiele des
Kindes macht er deutlich, wie das Ich einen Konflikt zwischen Triebanspruch und
Einspruch der Realität lösen kann: „Es antwortet auf den Konflikt mit zwei entgegengesetzten Reaktionen, beide gültig und wirksam.
Einerseits weist es mit Hilfe bestimmter Mechanismen die Realität ab und läßt sich nichts verbieten, anderseits anerkennt es im gleichen
Atem die Gefahr der Realität.“ Beide Parteien bekommen ihr Recht, aber zugleich
besteht die Gefahr einer Ichspaltung. Die partielle
Verleugnung der Wirklichkeit demonstriert Freud
vor allem am Fetischismus, aber weist sie auch in Trauerreaktionen auf. Er
erwähnt den Fall eines Zwangsneurotikers, der in allen Lebenslagen zwischen
zwei Voraussetzungen schwankt, der einen, „daß der
Vater noch am Leben sei und seine Tätigkeit behindere, und der entgegengesetzten, daß er das
Recht habe, sich als den Nachfolger des verstorbenen Vaters zu betrachten“.
Besonders in dem defensiven Mechanismus
des „Suchens“, über den unten noch zu sprechen sein wird, wird diese Ichspaltung deutlich. Der Tote wird von der restlichen
psychischen Organisation isoliert und führt dort ein eigenes Leben, das kaum
mit dem übrigen Denken und Fühlen in Zusammenhang steht. Im Gegensatz zur „Mumifizierung“
benötigt eine solche Isolierung des Toten keine unveränderte Umwelt; das Leben
scheint ungestört weiterzugehen, wahrend der Hinterbliebene den Toten „für sich“
behält.
Yorick Spiegel, Der
Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung (1973), München: Kaiser 21973,
S. 182 ff.