Septuagesimae

Annäherungen an den Predigttext Matthäus 20,1-16a

Ergebnisse eines Gesprächskreises der mittleren Generation in der Domgemeinde Schleswig

Früher, als ich jünger war, habe ich diesen Text immer als sehr ungerecht empfunden. Jetzt finde ich ihn völlig normal: So ist Güte. Das entspricht jetzt durchaus meiner Lebenserfahrung.

Aber die Aussage des Textes widerspricht doch der heute gängigen Praxis - wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Mich beunruhigt der Vers 16b: Gibt es nun Bevorzugte oder nicht?

Wir gehören mit zu den ersten, auch wenn wir die letzten sind. Ist das nicht eine gute Nachricht? Jeder bekommt das, was für den Tag reicht. Wenn ich mir vorstelle: so könnte das auch heute sein, dann freue ich mich. Es kommt ganz darauf an, auf welcher Seite ich stehe. Je nach dem, wohin ich gehöre, wird die Betrachtungsweise eine andere sein. Ich kann auch den anderen etwas gönnen.

Wie aber nimmt das der auf, der den ganzen Tag gearbeitet hat, der Rücken­schmerzen bekommen hat, dem es schlecht geht und der nun sieht: die nur herumgestanden haben, bekommen den gleichen Lohn?

Es geht im Gleichnis doch um das Himmelreich. Angesprochen ist die Lebensleistung, die Lebensarbeitszeit - ob nun das Leben lang oder kurz war. Was einer in der ihm gegebenen Zeit getan hat ? darauf kommt es an. Also - als das Gleichnis für das Himmelreich ist es vielleicht nicht unge­recht, aber auf der materiellen Ebene ist es schon ungerecht.

Aber ein Gleichnis sollte doch Bezug zur Realität haben.

Unsere Sozialgesetze spiegeln etwas von der "Grundgüte" dieses Gleich­nisses wider: die Menschen brauchen eine feste Absicherung ihres Lebens­unterhaltes, eine gewisse Grundversorgung.

Ich kann mir sogar vorstellen, daß auch ein heutiger Arbeitgeber so han­delt. Wenn er unter Zeitdruck steht und eine Terminsache abzuliefern hat, dann wird er den zuletzt eingestellten Hilfskräften vielleicht auch den gan­zen Tageslohn geben, weil sie es ihm ermöglichen, doch noch rechtzeitig fertig zu werden. Bestimmte Arbeitszeiten können möglicherweise anders als sonst bewertet werden.

Warum können wir als Arbeitnehmer den anderen nicht wenigstens ihr Exi­stenzminimum gönnen? Ist das denn gleich Sozialismus, wenn jeder wenig­stens das bekommt, was er zum Leben braucht? Es müssen ja nicht alle das gleiche haben, aber das Existenzminimum muß doch gesichert sein.

Warum darf man eigentlich keine Unterschiede machen, z.B. beim Erbe? Ist es wirklich gerecht, wenn alle das gleiche bekommen? Der eine braucht etwas mehr, der andere etwas weniger, um z.B. ein bestimmtes Ziel wie den Abschluß einer Ausbildung zu erreichen.

Wenn eine Mutter z.B. ihren Kindern gleiches Taschengeld bei durchaus unterschied­lichen Leistungen gibt, dann ist das doch Ausdruck ihrer Liebe. Sie will damit sagen: Ich habe euch alle gleich lieb.

Da fällt mir eine Geschichte ein: Im Garten brauchte ich Hilfe. Fadi würde mir helfen. Er ist dreizehn Jahre alt und ein tüchtiger Libanese. "Wenn Du mir zwei Stunden hilfst, gebe ich Dir zehn Mark." Als ich ihn im Auto abholte, stand Gerald neben ihm. "Darf ich mitkommen?" Ich hatte nichts dagegen. Schüchtern zeigte sich Fadia, acht Jahre. Auch sie wollte mir helfen. "Gut", sagte ich, "wenn Du gern möchtest!" Nun drängte sich energisch Mohammed, sieben Jahre, nach vorn. "Bitte, laß mich auch mit­kommen. Ich helfe zu Hause auch." Selbstbewußt schaute er mich an. Zu fünft verteilten wir uns über den Garten. Fadi erzählte mir, wofür er spart. Seine Geschwister hatten auch eine Spardose. Wir fingen an, die Blätter zusammenzufegen. Doch bald wurde es Mohammed zu anstrengend. Er wollte lieber oben auf der Karre mit den Blättern zum Container gefahren werden. Seine Finger froren. Immer mal wieder griff er nach der Harke. Doch es war schwierig für ihn. Fadia und Gerald waren auch bald erschöpft. Sie machten lange Pausen. Fadi aber arbeitete tüchtig. Nach zwei Stunden hörten wir auf, und ich gab ihm die verabredeten zehn Mark. Mit großen Augen sahen seine Geschwister auf das Geld. "Soll ich ihnen auch zehn Mark geben - Du hast fast alles alleine gemacht?" "Bitte", sagte er, und jeder nahm nun erstaunt von mir den gleichen Schein und freute sich sichtlich darüber.

Eine schöne Geschichte, die zeigt, wie wichtig es ist, großzügig zu sein. Aber es ist ja ein Himmelreich-Gleichnis. Und das bedeutet doch: Du kannst es dir nicht verdienen. Es geht um die ewige Seligkeit: die läßt sich nicht teilen oder vermehren oder verdoppeln. Die bekommst du ganz oder gar nicht.

Mir ist das zu abstrakt und zu weit weg. Mich beschäftigt Gottes Güte jetzt im Leben.

Aber das ist doch interessant: Gott nimmt auch noch fünf vor zwölf Leute. Das erinnert sehr an die Geschichte vom verlorenen Sohn. Können wir uns mitfreuen, daß Gott die Frühgetauften und Spätberufenen gleichermaßen annimmt, oder müssen wir uns ärgern wie der ältere Sohn im Gleichnis? Wer kriegt denn nun den Silbergroschen des ewigen Leben? Alle? Alle Getauften? Alle Glaubenden? Alle Christus-Bekenner?

Solange ich mit dabei bin, gönne ich den anderen auch den Zugang zu Gott. Wir brauchen keine Grundsätze oder abstrakten Maßstäbe aufzustellen. Es geht um die existentielle Erfahrung: Ich darf mit dabei sein. Und es geht dabei nicht um meine Leistung. Wir sind zu lange schon Materialisten, um das zu verstehen.

Wir sind doch vor Gott alle gleich, weil wir alle etwas schuldig bleiben. Wir sehnen uns danach, angenommen und geliebt zu sein. Wir können andere Menschen erkennen als solche, die das auch wollen, und dann all unsere Maßstäbe und Beurteilungen fahren lassen.

Es gibt eine Sehnsucht nach Güte und eine Hoffnung darauf, daß mir einer gerecht wird und mich recht sein läßt. Das hat mit den Maßstäben der mate­riellen Welt gar nichts mehr zu tun.

Mir fallt Römer 5 ein: Wenn wir glauben, dürfen wir wissen, daß wir dazu­gehören.

Aber noch einmal: Was bedeutet das mit dem Silbergroschen hier und jetzt in unserem Leben? Möchten wir immer so gebeutelt werden? Warum müs­sen wir kämpfen und leiden, bis wir endlich Güte erfahren "und der Groschen fällt"? Ich kann Leute verstehen, die ihr Eintrittsbillett in den Himmel zurückgeben möchten, wenn die Sache mit dem Silbergroschen, der Belohnung im Leben  hier, nicht stimmt.

Der Groschen ist ja gefallen am Kreuz - endlich ist Frieden, weil einer sich ganz und gar hingegeben hat. Und wir bekommen unverdientermaßen Anteil an dem, was da ein anderer für uns getan hat.

Mir ist das zu hoch und zu schwergewichtig. Ich möchte in der Kirche etwas Einfaches und Praktisches mit auf den Weg bekommen. Ich erwarte eine Ermutigung für den Alltag. Und dann bedeutet "Silbergroschen" doch: Fröhlichkeit, Gemeinschaft, ein gemeinsames Essen.

Der "Silbergroschen" in meinem Leben war die überraschend zugewach­sene Kraft, ein behindertes Kind eine Zeitlang zu tragen. Wir waren schon dankbar dafür, daß wir überhaupt noch dankbar sein konnten. Und wir haben gemerkt: andere haben das auch zu tragen. Der "Groschen" ist ein lebendiger Glaube. Und eigentlich braucht den jeder in seiner Situation. Es ist eine große Spannung, die sich da auftut zwischen Realität und Sehn­sucht, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Kreuz und Fröhlichkeit. Eine herausfordernde Geschichte, ein provozierendes Gleichnis!

Peter Godzik

Abgedruckt in: Erhard Domay (Hg.), Gottesdienst Praxis - Serie A: I. Perikopenreihe, Band 1: 1. Sonntag im Advent bis Sexagesimae, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996, S. 163-165.