Gemeinsam unterwegs

Zur Didaktik der Palliative Care-Kurse

Seit 1987 bin ich in der Hospizarbeit tätig. Ich gehöre nicht zur Gründergeneration, war aber einer ihrer ersten "Fans" und habe von Anfang an versucht, Adressen und Informationen so weiterzugeben, dass ein verlässliches Netzwerk hospizlicher Kultur und Gestaltung entstehen konnte - auch als es z.B. die "Hospiz-Zeitschrift" noch gar nicht gab.

Bereits 1992 habe ich in der Zeitschrift "Diakonie" (Heft 4, Juli/August 1992) den Versuch unternommen, die mir bis dahin bekannten Aus-, Fort- und Weiterbildungsmodelle in der Hospizarbeit zu beschreiben. Ich habe damals hervorgehoben:

Bei der Beurteilung der verschiedenen Weiter­bildungsmodelle für die Hospizarbeit ist wich­tig zu wissen, ob ein Arzt, eine Krankenschwe­ster, ein Sozialpädagoge, eine Psychologin oder ein Seelsorger den jeweiligen Grundtenor eines Weiterbildungsmodells bestimmt. Je nachdem ergeben sich ganz verschiedene Zu­gänge, Schwerpunkte und Defizite.

Die Erfahrung hat freilich gezeigt, daß erst ei­ne gleichmäßige Berücksichtigung aller As­pekte den ganzheitlichen Charakter der Be­gleitung sicherstellt, der für die Hospizarbeit so typisch ist. Es ist großartig zu sehen, wie in­terdisziplinäre Zusammenarbeit in einem Team von hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und ehrenamtlichen Helfe­rinnen und Helfern zum Wohle der ihnen an­vertrauten Patienten gelingt.

Deutlich ist auch, daß am Ende einer langen Begleitung eines Schwerkranken und Ster­benden alle berufliche Routine und gelernte Profession aufhört, weil in der Beziehung mitmenschliche Nähe gefragt ist, die offen ist für das Transzendente, das uns in Sterben und Tod gemeinsam begegnet. Für alle Beteiligten geht es um die letzte Möglichkeit menschli­cher Reifung und nicht um einen "orthothanatologisch gesicherten Abgang", wie Reimer Gronemeyer spöttisch vermutet hat.

Deshalb ist es so wichtig, auf die "Entprofessionalisierung" der Sterbebegleitung zu ach­ten und durch die Zulassung freiwilliger Helfe­rinnen und Helfer zu lernen, dass in erster Li­nie Mitmenschlichkeit, einfühlsame Nähe und liebevolle Geduld gefragt sind, wenn es darum geht, einen Menschen auf dem letzten Stück seines Lebensweges zu begleiten. Das schließt nicht aus, daß alle Helferinnen und Helfer, die hauptberuflichen wie die ehren­amtlichen, sorgfältig ausgebildet werden und fortlaufende Supervision erhalten. Aber "leisten" und "bezahlen" läßt sich das im Grunde nicht, was angesichts des Sterbens von uns ge­fordert ist.

Wir können es freiwillig geben als Berufstätige und Ehrenamtliche auf der Grundlage men­schlicher Qualitäten, die wir einem Größeren verdanken. Unser "Lohn" wird der innere Ge­winn sein, den wir aus einer so elementaren menschlichen Begegnung im Angesicht des Todes, selber herausgefordert zu Glaube, Hoff­nung und Liebe, ziehen.

Es ist erstaunlich, wie sehr die Grundproblematik in all den Jahren die gleiche geblieben ist. Die Herausforderung zur "Entprofessionalisierung" und Entwicklung von Mitmenschlichkeit ist angesichts der verbesserten Rahmenbedingungen durch Gesetzgebung und Regelfinanzierung sowie durch den vermehrten Einsatz der Hauptamtlichen eher größer geworden. Mit mir langjährig in der Hospizarbeit Engagierte haben es deshalb für nötig befunden, fünf Bausteine für die Fortentwicklung der Hospizarbeit zu formulieren. Im Baustein 2, die "Hospizbildung" betreffend, heißt es u.a.:

"Hospiz" heißt auch, die Kultur eines gemeinschaftlichen Lebens (hospitium = Herberge/ Gastruhestätte auf dem Weg) wertzuschätzen, zu achten und in den persönlichen Beziehungen und Begegnungen zu pflegen. Dieses wird wieder neu zu reflektieren sein. ...

Die Kultur des gemeinschaftlichen Lebens drückt sich ... auch dort in den Bildungs­strukturen aus, wo "Hospiz-Bildung", (Fort- und Weiter-)Bildung des Einzelnen aber auch (Aus-)Bildung von Strukturen und (Bildungs-)Kultur in den Hospizeinrichtungen durch die Weitergabe von "Hospiz-Werten" in "lernenden Gemeinschaften" geschieht. Das Mo­dell der "lernenden Gemeinschaft" ent­lehnt sein Verständnis gerade der Situation von Begleitung Schwerst- und Sterbenskranker selber. So wie hier die Menschen lernend gemeinschaftlich auf ihrem Wege sind, sollte auch Bil­dungskultur einerseits und Leitungskultur andererseits orientiert sein. Inte­gration kann nur so geschehen. ...

Die Bewährung der Hospiz­werte ist ... zunehmend eine Aufgabe und Anfrage für die ein­richtungsinterne Kultur in den Hospiz­einrichtungen selbst ... Auch hier kommt die dialogisch-gemeinschaftliche Kultur zuerst; sie darf nicht zur Leistungskultur verkommen, abgerech­net und abgefertigt. Integration des Lebens wird benötigt; eine Total­versorgung brauchen wir nicht. Nur ein integrativer Ansatz, eine Gleichstellung von sozialem Engagement (EA) und somatischer Versorgung (Medizin und Pflege) garantiert auf Dauer die Mög­lichkeit des selbstbestimmten Sterbens in Würde. ...

Worauf müssen wir zuerst achten, wenn wir Kurse in Palliative Care geben? Die geschriebenen Curricula - so wichtig sie auch sind - tun's freilich nicht. Es tritt ein didaktisches Konzept und eine didaktische Grundhaltung hinzu, die den gemeinsamen Lern- und Erfahrungsweg der Sterbenden und der sie Begleitenden widerspiegelt.

Wir nehmen uns ausreichend Zeit und planen die Zeitstruktur so, das Pausen und Tagesrythmus angemessen berücksichtigt werden. Dazu gehört auch das Übernachten am Ausbildungsort. Wer gehetzt ankommt und später gleich wieder weg muss, hat von der Konzentration auf ein mitmenschliches Geschehen nicht viel verstanden und lässt sich die Tagesordnung von ganz anderen Kräften diktieren.

Wir nehmen einander sehr sorgfältig als Lern- und Erfahrungsgruppe auf Zeit wahr. Wir machen auch die Erfahrung, dass die beiden Leitungspersonen (am besten ein Mann und eine Frau) beständig anwesend sind und besonders auf den Gruppenprozess und das gemeinsame Lernen achten.

Wir begrüßen durchaus die wichtigen und kompetenten Impulse, die von Referierenden ausgehen, die während der Kurswochen zur Lerngemeinschaft hinzutreten. Es sollten aber nicht mehr als zwei pro Woche sein, um die Aufmersamkeit der Lernenden nicht ständig auf wechselnde Personen zu lenken. Auch in der Sterbebegleitung bewährt sich die Beschränkung auf Wenige, die ihre Zeit gern und verlässlich schenken.

Bei der Themenauswahl gehen wir ressourcen- und prozessorientiert vor. Jede Lerngruppe kann schon eine Menge, verfügt über eigene Erfahrungen und Kompetenzen, ist bereit, sie mit den anderen zu teilen. Neben dem persönlichen Kennenlernen geht es um Abklärung von Motivation und Zielsetzung. Das alles wird mit der Methode "wertschätzender Erkundung" (AI) in Szene gesetzt. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Hospizbewegung vermittelt Werte und Haltungen, nicht Bewunderung und Stolz; sie will nicht beeindrucken, sondern Zuversicht schenken und "diakonische Aufmerksamkeit" fördern.

Je nachdem, an welche Berufsgruppe sich die Palliative Care-Zusatzausbildung richtet, haben nun kurze Beschreibungen von Berufserfahrungen und die jeweilige "Berufsethik" ihren Platz. Nur wer sich geachtet und wertgeschätzt fühlen kann in dem, was er bisher gelernt und betrieben hat, ist auch bereit, sich auf weitere gemeinsame Lernschritte einzulassen. In weiterführenden Kursen ist durchaus darauf zu achten, dass auch schon die Lerngruppe multiprofessionell zusammengesetzt ist und wirklich gemeinsame Lernerfahrungen im vorweg erlebten Team ermöglichen. Grundkurse tun gut daran, die einzelnen Berufsbereiche zunächst je für sich zu behandeln.

Vor alle Beschäftigung mit weiterführenden Themen gehört das Einüben von kollegialer Beratung und das aufmerksame Wahrnehmen von Care-Ethik. Theoretische Inputs (didaktisch gut aufgearbeitet und materiell hervorragend präsentiert) und praktische Übungen (präzise angeleitet und eigene Kompetenzen fördernd) wechseln einander sinnvoll ab.

Bei den nun folgenden thematischen Einheiten wird darauf geachtet, dass die Themen nicht willkürlich oder beliebig aneinandergereiht werden, sondern selber so etwas wie einen "roten Faden" in das innere des Labyrinths der wesentlichen Begegnung darstellen.

"Lebensqualität" nach erlittener Diagnose über eine lebenverkürzende Krankheit mag im Vordergrund stehen. Dabei muss aber darauf geachtet werden, dass die Inhalte der Hoffnungen und Erwartungen sich unterwegs wandeln. Es geht ja wirklich um "Leben bis zuletzt", aber um qualifiziertes, d.h. auf Beziehung und Wandlung ausgerichtetes Leben, und nicht um ein Festhalten von irgendeinem status quo um jeden Preis. (Auch geht es nicht um das Vorführen von wissenschaftlichen Erhebungsmethoden. Die verstehen sich von selbst und sind nicht Gegenstand von Palliative Care-Kursen.)

In den Kursen für die psychosozialen Berufsgruppen kommen selbstverständlich Basisinformationen und -übungen aus dem Bereich von Pflege und Medizin vor - sie dienen aber nicht der fortwährenden Beeindruckung über die Kompetenzen der anderen Professionen um den Preis der Vernachlässigung der eigenen Berufsrolle. Interdisziplinarität und Multiprofessionalität kennt und achtet die jeweils andere Rolle, beschäftigt sich aber mit der eigenen, stärkt und fördert sie, damit Gleichberechtigte und Gleichbefähigte später miteinander ein Team bilden können.

In den Kursen für medizinische und pflegerische Berufsgruppen müssen besonders die Kompetenzen der psychosozialen Berufsgruppen und der Ehrenamtlichen ihren angemessenen Platz bekommen. Gerade im Beziehungsfeld aller Beteiligten in einem gut funktionierenden Palliative Care-Team ist darauf zu achten, dass die gesetzlichen Vorgaben (nur Medizin, Pflege und Koordination werden vergütet) nicht unter der Hand zum Leitbild bei Fortbildungskursen werden. Das Unter-sich-Bleiben der beati possidentes ist noch kein Ausweis von Hospizkultur!

Ich verzichte hier darauf, die Themenfelder im Einzelnen zu benennen, die mir besonders im Blick auf die psychosozialen Berufsgruppen und die Seelsorgenden einleuchten. Klar muss sein, dass neben den Patienten auch die Angehörigen und Zugehörigen sowie das Umfeld in den Blick zu nehmen sind. Die Vielfalt der Verstehensmöglichkeiten und der Handlungsoptionen bzw. Nichthandlungsoptionen sollte gesehen und eingeübt werden.

Der "Schlusssatz" der "Bildungssinfonie" Palliative Care ("look, listen, care") gehört den Bildern und Erfahrungen des Todes. Auch in den Fortbildungskursen sollte nicht "weggeschminkt" werden, worauf es am Ende hinausläuft: möglichst echt und realistisch, nicht übertrieben und spektakulär (die "Psychosozialen" möchten z.B. nicht immer erst dann gerufen werden, wenn die anderen nicht mehr wollen oder können, weil es so dramatisch geworden ist), immer voller Achtung und Respekt und mit einem hoffentlich zunehmenden Gefühl für die besondere Würde des letzten Augenblicks, der von Stille und Nichtstun geprägt ist, von Hinschauen und Vertrauen: "Da ist ja doch mehr, als ich je gesehen und verstanden habe." Es gibt eine Kraft über den Tod hinaus.

Am Ende des Kurses wünsche ich mir ein Lachen oder zumindest ein Lächeln, das von Herzen kommt; Freundschaft, Zutrauen untereinander, auch so etwas wie Ehrerbietung gegenüber den Lehrenden, die gewiss ihr Bestes gegeben haben. Ja, es muss auch Rückmeldungen geben und Zertifikate. Aber mit welcher Haltung ein Kurs angegangen, gestaltet, durchgehalten und abgeschlossen wird, ist entscheidend. Das steht in keinem Curriculum, es kann nicht so einfach angestrebt werden. Wenn es gelingt, ist es immer ein Geschenk - wie im richtigen Leben und Sterben.

Abgedruckt in: Peter Godzik, Hospizlich engagiert. Erfahrungen und Impulse aus drei Jahrzehnten, Rosengarten b. Hamburg: Steinmann 2011, S. 209-212.