Ansprache zur Einweihung der Gedenkstätte für die 27 osteuropäischen Kinder

von Lothar Obst, Bürgervorsteher der Stadt Mölln

Feierstunde zur Einweihung der Gedenkstätte für die 27 osteuropäischen Kinder am Samstag, 6. November 1999, 11.00 Uhr, Alter Friedhof, Hindenburgstraße

"Damit auch nicht eines von diesen Kleinen verloren werde"

Sehr verehrte Damen und Herren, sehr geehrte Gemeinde,

Kinder sind unsere Hoffnung. Sie sind unser größter Schatz. Sie tragen die Welt in einen neuen Morgen und in eine neue Zukunft. Alles müssen wir einst von unserem Glück und Reichtum in der Welt zurücklassen, aber in ihnen leben wir weiter auf Erden und hoffen, von ihnen ein Stück mit in den Himmel zu nehmen. Sie bleiben uns für immer ein Geschenk Gottes. Sie sind wie Bücher, aus denen wir lesen und in die wir schreiben. Mit den Augen eines Kindes sehen lernen, mit den Ohren eines Kindes hören lernen, das lehrt uns, Gottes Schöpfung in aller Unschuld zu entdecken und mit aller Reinheit zu erfahren.

Wir stehen an den Gräbern von 27 Kindern. Trauer und Schmerz erfüllt unser Innerstes ebenso wie Scham darüber, was an ihnen getan wurde. Sie hatten keine Hoffnung, keinen neuen Morgen und keine Zukunft. Ihre Mütter wurden aus ihrer Heimat, zumeist Weißrußland, der Ukraine und Polen verschleppt und mußten in einem Rüstungsbetrieb unserer Stadt, der Heeresmunitionsanstalt, Zwangsarbeit verrichten. 19 der Kinder wurden in Mölln geboren, sie alle starben hier als Opfer eines Regimes, das auch unsere Stadt ergriffen hatte. Schlechte Lebensbedingungen, Unterernährung, fehlende medizinische Betreuung, mangelnde Bekleidung und Wärme, kalte und feuchte Unterkünfte wurden von den Verantwortlichen bewußt herbeigeführt. Allein 17 Kinder starben im Winter 1944/45

von November bis Februar. Ihr Tod war Kalkül eines menschenverachtenden Regimes. Gottlosigkeit hatte sich über unser Land gelegt und die Seelen verdunkelt und die Münder verstummt.

Heute legen wir diese Kinder zurück in Gottes schützende Arme:

1. Nicolai Podulenjuk, 6 Monate alt

2. Peter Dabugenko, 3 Monate alt

3. Nina Asazenka, 17 Tage alt

4. Wladimir Minchinko, 3 ½ Monate alt

5. Lida Onischtschuk, 2 Monate alt

6. Stanislaus Rosla, 10 Monate alt

7. Jewa Powlajez, 3 Jahre alt

8. Nadja Paltschikow, 1 Jahr und 8 Monate alt

9. Nelja Pisarenko, 5 ½ Monate alt

10. Alex Schaban, 1 Jahr und 9 Monate alt

11. Elisawetha Menslowa, 1 Jahr alt

12. Valentina Olinik, 4 Monate alt

13. Olga Iljuschonok, 4 Jahre alt

14. Iwan Iljuschonok, 2 Jahre alt

15. Wladimir Omelnitzki, 1 Jahr und 5 Monate alt

16. Gregori Matukewitsch, 7 Monate alt

17. Tamara Bogomolowa, 12 Monate alt

18. Iwan Wlasjuk, 2 Monate alt

19. Richard Kowolenko, 2 Monate alt

20. Switlana Kolesnik, 2 ½ Monate alt

21. Peter Iljuschonok, 2 ½ Monate alt

22. Larissa Kamlenok, 22 Tage alt

23. Iwan Besrutschka, 7 Wochen alt

24. Edick Schkura, 16 Tage alt

25. Sergei Iljuschonok, 4 Monate alt

26. Anatole Sadoroschina, 5 Monate alt

27. Luba Sorowzowa, 3 Monate alt.

Die Kinder wurden hier beerdigt. In ihrer Zeit waren sie verlassen, würdelos. Doch Gott hat in väterlicher Treue an ihnen festgehalten. Vor ihm hat jedes Kind eine unverwechselbare Würde. Wo Leid ist, da ist geweihte Erde. Eines Tages wird die Menschheit begreifen, was das heißt. Vorher weiß sie nichts vom Leben.

1960 wurden an dieser Stelle die Gräber neu belegt, obwohl sie wie die Gräber anderer Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft hätten geschützt werden müssen.

Eine Zeitungsanzeige von Pastor Dr. Holger Roggelin zum Volkstrauertag des letzten Jahres rief das Schicksal dieser Kinder aus dem Dunkel der Geschichte in Erinnerung. Schülerinnen und Schüler der Klasse 10 b unserer A.-Paul-Weber-Realschule bearbeiteten im Geschichtsunterricht gemeinsam mit Pastor Dr. Roggelin und Stadtarchivar Christian Lopau die Kriegs- und Nachkriegszeit unserer Stadt. Ihre Ergebnisse faßten sie in einer Ausstellung zusammen. Sie wurde u. a. in der Realschule, dem Seniorenheim "Uhlenspeegel" und der Stadtbücherei gezeigt. Eine Arbeitsgruppe fand sich zusammen, die sich die Wiederherrichtung dieser Grab- und Gedenkstätte für die 27 Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen zum Ziele setzte. Unter Anleitung ihrer Rektorin, Frau Elisabeth Heidn, entwarfen die Schülerinnen und Schüler Text- und Gestaltungsentwürfe für den Gedenkstein und die Erläuterungstafel. Den künstlerischen Entwurf dieser Anlage fertigte der Bildhauer Herr Roland Kahlke. In besonderer Weise aber förderte die Friedhofsverwaltung, und hier in Sonderheit ihr Leiter, Herr Wolfgang Lensch, dieses Projekt, der der eigentliche "Vater dieser Anlage" ist, weil er sie über viele Jahre hinweg anstrebte und vorbereitete.

Das Kultusministerium des Landes Schleswig-Holstein, die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde sowie die Stadt Mölln trugen mit ihren finanziellen Beiträgen zur Erreichung des Zieles bei, ebenso Spenden aus der Bürgerschaft.

Wir sind allen, die sich hier persönlich und finanziell einbrachten, aufrichtig dankbar.

Wir übergeben heute diese Stätte in Achtung vor den hier begrabenen Opfern, damit "auch nicht eines von diesen Kleinen verloren werde" (Matthäus 18,14).

Wir übergeben diese Stätte in Wahrhaftigkeit vor der Geschichte unserer Stadt. Wehe dem Volke, dem die Wahrheit nicht mehr heilig ist! Wir übergeben diese Stätte

in Scham vor einer Zeit, die die Geister verführte, die Herzen verhärtete und die gebenden Hände verrohte. "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird Euch freimachen" (Johannes 8,32). Wahrhaftiger Umgang mit der Geschichte verlangt uns vieles ab. Aber hier, an dieser Stätte ist uns die Gelegenheit gegeben, uns über den Gräbern dieser Kinder mit der eigenen Geschichte unserer Stadt auszusöhnen.

Ein Wort von Hans Christian Andersen, der Kinder über alles liebte, mag auch diese 27 hier in einen neuen Morgen und in die Geborgenheit ihres Schöpfers geleiten:

"Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes auf die Erde hernieder und nimmt das tote Kind in seine Arme. Dann breitet er seine großen weißen Flügel aus, fliegt überall dorthin, wo das Kind gerne gewesen ist und pflückt eine ganze Handvoll Blumen, die er zusammen mit dem Kinde zu Gott hinaufträgt, wo sie noch schöner blühen als auf Erden."