Werden, was wir sein wollen

Im Drama "Der blaue Boll" (1926) geht es Barlach um einen Gutsbesitzer, der schon ganz blau geworden ist vom Genuss guten Essens und Trinkens. Boll möchte unbedingt anders werden und weiß, wie schwer das ist. Auch die im Dorf als "Hexe" bezeichnete leidenschaftliche Vegetarierin Grete will anders werden. Boll soll ihr dabei helfen. Trotz der Versuchung, sich näher einzulassen auf die junge Frau, besinnt dieser sich auf seine Verantwortung: Aus Teufels Küche bringt er sie in die Kirche und wartet dort auf ihre Ernüchterung. Grete wollte Gift haben, um sich und ihre drei Kinder "vom Fleische" (D 397) zu erlösen, doch war es nur Alkohol, der sie einen Blick in die Hölle tun ließ, wo ihr Boll und ihre Kinder begegneten. Dieser Schrecken bringt sie zur Einsicht, dass sie zu ihren Kindern und ihrem Mann, überhaupt zurück ins Leben zu gehen hat.

Die Menschen um Boll herum fürchten jede Veränderung. Seine Frau versteigt sich sogar zu der Aussage, dass ihr ein toter Boll lieber wäre als ein veränderter: "Ich würde vorziehen, ihn im Grabe zu haben, denn da wüßte ich immer, wer es ist, der da liegt ..." (D 412). Doch muss sie das Werden Bolls hinnehmen.

In seiner Autobiographie schrieb Barlach: "Ich lernte ...ehrbar zechen, einen Trunk tun, ohne die Besinnung zu verlieren ... Ich litt an Herzbeschwerden und ward Patient bei Dr. Klencke. Klencke riet mir Mäßigkeit an" (P I 43). Genau diese Mäßigkeit will auch der neue Boll üben, vor allem aber er selbst sein und Verantwortung übernehmen für sein Leben. Er wird damit trotz all seiner Schwächen zum Vorbild für uns, die wir möglicherweise vor ähnlichen Herausforderungen stehen.