Brief an Pastor Johannes Schwartzkopff

Güstrow, 3.12.1932

Sehr geehrter Herr Pastor, in der Zuschrift des Domgemeinderats muß auch ich zwischen den Zeilen das Eigentliche, nämlich den Vorwurf der lauen Christlichkeit und der mangelnden Bekennerfreude herausfühlen und weiß allerdings diese von seelsorgerischer Anteilnahme eingegebene Bemängelung ernsthaft zu würdigen, kann ihn aber nicht ohne eine Erwiderung lassen, in der sich hoffentlich ein achtungsvolles Verhalten gegenüber den mir teils menschlich nahestehenden, teils sonst von mir gewiß wertgehaltenen Persönlichkeiten nicht vermissen läßt.

Aber die Sache selbst erfordert Unmißverständlichkeit, gerade weil ich mich gegenüber religiösen Problemen ziemlich weit in die Öffentlichkeit vorgewagt habe.

Wollte ich allerdings, lieber Herr Pastor, alles sagen, was ich zu dem Thema beibringen könnte, so würde es ein Buch werden. Darum können es nur Sätze sein, die ich Sie bitte, nicht als nur notgedrungene, sondern ausdrücklich gewünschte Beantwortung der hauptsächlichsten Punkte gelten zu lassen, nämlich derjenigen, die sich meinem Gefühl nach der Lektüre der Zuschrift als die nicht wortgemäßen, sondern zu folgernden Aussetzungen an meinem Verhalten gegen Christentum und Kirche darstellen.

1. Zunächst geht mir das verpflichtende Empfinden für Kirche und Gemeinschaft nicht aus Gründen, sondern von Natur her ab. Was hinter den Worten, Formulierungen und zeitgemäßen Geltungen der christlichen Gemeinschaft als Ewiges und hingebend Verehrtes steht, wird davon nicht berührt. Dieses in das Bettlerkleid des dürftigen Wortes gekleidete Letztere ist größer als beschreibbar und kann wohl mit Beteuerungen berührt, aber weder glaubhaft erwiesen noch wörtlich bekannt werden. - Ich müßte heucheln, wollte ich durch Wort oder Tat scheinen, was ich nicht bin.

2. Das natürlich nie endgültige und nie abschließbare Geschehen im Wahrnehmen und Erleben so mancher Reihe innerer Vorgänge ist indiskutierbar. Glaube, welcher Art er auch sei, ist Wohltat, Glück und Gnade, kann aber niemals das Ergebnis eines Willensakts, eines Zuspruchs oder von Ermahnungen sein. Ein Bekenntnis zu miteinander verbundenen, ein Ganzes ausmachenden, ein System begründenden Glaubensartikeln kann von mir nicht erbracht werden.

3. Ausdrücklich fühle ich mich verpflichtet, indem das Schreiben des Domgemeinderats eine Stellungnahme verlangt, zu sagen, daß die christliche Heilslehre mir eine immer geringer werdende Notwendigkeit seelischen Besitzes geworden ist. Wie wenig oder viel, ob überhaupt einen Ersatz ich dafür gewonnen, muß ich zu meinem Glück oder Schaden hinnehmen, wie es mein Tun und Lassen mit sich bringt.

4. Auf die daraus sich ergebende Frage, warum ich nicht längst aus der Kirche ausgetreten sei, um die gewiß wünschenswerte Klärung meiner Situation herbeizuführen, glaube ich, ohne weitschweifig zu werden, folgendes sagen zu sollen: Was man als Kind und junger Mann inbrünstig gefühlt, behält einen Gemütswert, den man mit einem radikalen Schritt der angedeuteten Art doch nicht verliert. Der Monumentalbau der Kirche, der majestätische Gang der sich folgenden und sich ablösenden Lehrmeinungen, die architektonische und künstlerische Ausgestaltung des als sakral von Jahrtausenden Erkannten gibt mir eine Ehrfurcht, in der ich das - nach dem Däublerschen Wort "Es hat der Geist sein Gleichnis in der Form erkoren" - Geborene aus dem Absoluten und Höchsten willig erkenne oder vielmehr vermittelt empfange. Ich fühle diese Ehrfurcht gegenüber der innern und äußeren Gestaltgebung jeder der großen Weltreligionen, nicht einer einzelnen wortmäßig und begrifflich umgrenzten. So bin ich äußerlich heimisch unter der mir von den Eltern angewiesenen, gewohnt gewordenen Kirchenkuppel, freilich der Charakterisierung als Namenschrist anheimfallend. Sollte dieses Verhalten Ihnen, lieber Herr Pastor, oder Ihrem Herrn Amtsbruder anstößig erscheinen, so finde ich solches Urteil nur zu berechtigt und entziehe mich nicht der Folgerung, mich von einer Gemeinschaft zu lösen, deren Satzungen ich nicht entsprechen kann.

Der Fluch des Individualismus liegt auch auf mir, ich pflege zu sagen: "Die Persönlichkeit ist eben doch nicht das größte Glück der Erdenkinder", aber dieses Fegefeuer muß doch wohl von der Welt erlitten werden. Ich habe mir oft vorgenommen, das Wort Gott nicht mehr zu gebrauchen, denn ich fühle vernichtend den Unterschied zwischen dem menschlichen Empfindungs- und Anschauungsvermögen und dem alles Sein und Geschehen einschließenden Begriff. In meiner "Sündflut" habe ich dem Bibelgott ja wohl nach Vermögen das Letzte an Größe gegeben (ich weiß: "gegeben" ist eine Art Lästerung), aber er ist vor meinem Gewissen doch der Gott, wie ihn Menschen als das Erhabenste zu sehen vermögen, weil sie sehen, sich vergegenwärtigen müssen, den sie so und nicht anders zu erkennen vermeinen. Leider bin ich Künstler und von Naturanlage gezwungen, Gestalt in allem wahrzunehmen, und so ist aus menschlichem und künstlerischem Unvermögen zum Gestalt- und Begrenzungslosen Gott "geworden", eben darum, weil man gestalten muß, ob man will oder nicht. So lebe ich in einem gewissen Zwiespalt meines Glaubens und Ahnens, aber seien Sie versichert, nicht ungern, sondern in der Zuversicht, daß Zweifel und Unsicherheit nichts sind, als was ich einmal in einem sonst schlechten Gedicht das "Glück des Ungenügens" nannte. Ich muß bekennen, daß dieses Glück beseligend ist, beseligend durch die Erfahrung einer schöpferischen und unaufhaltsamen Ruhe­losigkeit des absoluten Geschehens, vor dem weder eine religiöse noch philo­sophische Bestimmung Geltung beanspruchen kann, die ich also höchstens als die jeweiligen Kennzeichen historischer Höhepunkte der Menschheit anerkennen kann.

Daß die Ausgestaltungen dieser einzelnen Phasen wahrhaft groß sind und mich darum immer wieder erschüttern, verpflichtet mich nicht, ihnen oder einer einzelnen anzugehören. So lebe ich in einer Ungewißheit, die mir eine Vorstufe erscheint, von der ich nicht zurücktreten kann, ohne an mir eine Beschneidung gerade dessen zuzulassen, was ich als Sprossen und Entfalten leisester Anfänge über die Begrenztheit meiner zu ihrer Zeit beglückenden früheren Zustände hinaus ansehe. Ich hafte somit zu einem Teil, ob aus Gewohnheit, Trägheit des Geistes oder aus Scheu vor Entscheidungen, die sich abermals als nicht endgültig erweisen werden, sei dahingestellt, an dem Alten, wobei der Grad der bloßen Äußerlichkeit oder der früheren inneren Verwachsenheit nicht bestimmt werden kann.

Was ich weiter zu sagen hätte, verschließe ich in mich, denn schon die Nötigung zur Vertiefung oder zum Eingehen darauf beim Lesen durch Sie wäre einer unzulässigen Beeinflussung vergleichbar, weil es so eindringlich vorgetragen werden müßte, als ob es überzeugen wollte. Ich glaube aber, daß alles Notwendige empfangen und als selbstverständlich hingenommen werden muß, glaube obendrein, daß das Wort ein elender Notbehelf, ein schäbiges Werkzeug ist und das eigentliche und letztliche Wissen wortlos ist und bleiben muß. Es ist dem Menschen gegeben als Kleingeld zur Bestreitung seiner Bedürftigkeit und maßt sich immer wieder die Ordnung absoluter Dinge an, ein irdischer Topf der Zeitlichkeit, der aus der Ewigkeit schöpfen möchte.

Schließlich mache ich kein Hehl aus dem Bewußtsein, mit all diesem nur das Ungefähre des zu Sagenden getroffen zu haben. Die Forderung des: "Erkenne dich selbst!" ist vielleicht die allerhöchste und schwerste. Über sich aussagen wollen ist doch wohl allermeist das Wagnis einer Unmöglichkeit.

Mit herzlichen Grüßen bin ich       Ihr sehr ergebener E. Barlach

Ernst Barlach an Johannes Schwartzkopff, 3.12.1932, Die Briefe 1888-1938 in zwei Bänden, Band II: Die Briefe 1925-1938, herausgegeben von Friedrich Droß, München: Piper 1969, Seite 335-338.