Einüben ins Sterben

Zitat Andreas Ebert:

Im selben Augenblick, in dem die Emmaus-Jünger Jesus erkennen, entschwindet er. Er läßt sich nicht festhalten. Als Maria aus Magdala versucht, ihn zu umklammern, bittet er sie: "Rühr mich nicht an!" Zum Leben gehört das Abschiednehmen. Jeder Abschied ist ein kleiner Tod, und der Tod fordert mehr als alles andere unsere Fähigkeit heraus, Abschied zu nehmen und loszulassen.

Wir wissen nicht, in welcher seelischen Verfassung Jesus gestorben ist. Die Evangelien enthalten unterschiedliche Versionen der letzten Augenblicke Jesu. Nach Markus und Matthäus starb Jesus mit einem lauten Schrei, nachdem er zuvor gerufen hatte: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?". Nach Lukas sagte Jesus: "Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!" Nach Johannes lauten die letzten Worte Jesu: "Es ist vollbracht!" Verzweifeltes Aufbäumen oder stille Ergebenheit - wir wissen es nicht. Das ist gut so. Denn so wissen wir nicht, wie "man" als Christ in der Nachfolge Jesu zu sterben hat. Ob wir mit einem Schrei sterben werden oder in stiller Ergebenheit ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, daß einer unser Fallen "unendlich sanft in seinen Händen hält" (Rilke).

Alle großen Religionen, und vor allem die mystischen Strömungen aller Religionen, sehen das Loslassenkönnen als das wichtigste Ziel des Lebens. Die klassischen spirituellen Disziplinen (schweigendes) Gebet, Fasten und Almosengeben sind Einübungen ins Loslassen - und damit Einübung ins Sterben.

Christen verstehen ihr Leben als Pilgerweg und Wanderschaft durch ein fremdes Land: "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige" (Hebr. 13,14). Wer bei einem Sterbenden wacht, meditiert dabei gleichzeitig die eigene Vergänglichkeit und bereitet sich auf das eigene Sterben vor.

Andreas Ebert, Siebenter Schritt: loslassen, in: Verlaß mich nicht, wenn ich schwach werde, hrsg. von Andreas Ebert und Peter Godzik, Rissen: E.B.-Verlag 1993, S. 108. Jetzt in: Peter Godzik (Hrsg.), Die Kunst der Sterbebegleitung. Handbuch zur Begleitung Schwerkranker und Sterbender, Rosengarten b. Hamburg: Steinmann 2013, S. 107.

Zitat Manfred Josuttis:

Nicht nur das Christentum, sondern die meisten Kulturen und fast alle Religionen rechnen mit einer Zukunft für uns, die nach unserem irdischen Dasein beginnt. Menschen ohne Bewusstsein sind, ohne es zu wissen, auf dem Weg in diese andere Welt. Eigentlich könnten sie schnell in diese Richtung verschwinden. Aber sie sind wahrscheinlich noch leiblich erfüllt mit vielem, was ihnen im Lebenslauf widerfahren ist. Der Ausgang aus dieser Welt, der sich manchmal so lange hinauszieht, wird erst möglich, wenn sie Mut zum Sterben gewinnen. Was sie unseren Worten entnehmen, wissen wir nicht. Aber in unserem Atem, in unserer Stimme, in unseren Händen kann mitschwingen, dass Geborgenheit statt Einsamkeit, Glück statt Verzweiflung, Erbarmen statt Angst, Seligkeit statt Verdammnis auf uns warten. Auch ohne viele Worte können wir zu einem seligen Sterben helfen. Vielleicht ist ja dies das letzte Geheimnis des Lebens: Das Dasein ohne Bewusstsein, die einfache Gegenwart, erwartet uns alle im Koma und wird zu guter Letzt in ewige Gegenwart verwandelt werden. Von der Zeit davor redet die Bibel manchmal sehr radikal: "Wir sind von gestern her und wissen nichts: Unser Leben ist ein Schatten auf Erden" (Hiob 8,9).

Manfred Josuttis, Ich bin ein Gast auf Erden, 2016, S. 136.