Es ist schwer, in einer Welt, wo mit so viel Nachdruck erklärt wird, nur das Materielle in seiner messbaren Erscheinungsform habe Geltung, nur der gesellschaftliche Status sei des Opfers wert, sein Leben als ein stimulierendes Paradoxon von zwei gegensätzlichen Wirklichkeiten zu sehen. Deshalb ist es wesentlich, Kranken zu helfen.
Diese Hilfe ist dann nicht irgendein Erklären zweier Wirklichkeiten oder ein Hinweisen auf eine andere Welt. Ganz im Gegenteil. Denn dann würde dem Kranken höchstens die mühsame und bedrückende Erfahrung zuteil, dass er versagt habe, diese unsichtbare Realität zu erkennen; er bekäme Schuldgefühle und würde einfach nicht verstehen, wovon man spräche.
Und nur während seines Krankseins könnte er sich an einen gewissen Trost klammern, so wie Kranke sich gern an etwas halten wollen. Sie fühlen sich hilflos, passiv, und nehmen nur zu schnell jedes angebotene Medikament entgegen. Sobald sie gesund sind, meiden sie aber genauso intensiv alles, was an ihre kranke Phase erinnert, schämen sich fast, dass sie Derartiges je ernst genommen haben.
Die einzige Hilfe-Möglichkeit ist einfach das Dasein des anderen. Und dann ist es entscheidend, ob der Besucher selber ein ganzer Mensch ist, ob er, bewusst oder nicht bewusst, in beiden Wirklichkeiten lebt. Nur dieser Besucher kann Hilfe bringen. Denn nur dieser kann durch sein Dasein die andere Wirklichkeit im Kranken wecken. Gerade ohne Worte darüber, nur durch die unsichtbare, undefinierbare Anwesenheit eines Lebens mit dem Paradox.
Der dann von der anderen Wirklichkeit redet, zeigt, dass in ihm der salbungsvolle, sehr oft unehrliche Prediger wohnt, und er bringt den Kranken ebenfalls zum Heucheln. Man rede eigentlich überhaupt nicht, man sei einfach mit seinem Alltag da.
Der Kranke ist nämlich der Passive, er ist die Seite der erscheinenden Welt. Diese Welt aber wartet, hofft, sehnt sich. Sie sehnt sich nach dem Durchbruch, dem Durchbruch aus der Langeweile, aus dem Trott, Durchbruch einer anderen Welt. So sehnt sich die Erde nach dem Regen, der Mensch nach der Mitteilung aus dem Himmel, eben aus der anderen Wirklichkeit.
Und der Regen kommt zur Erde, und die Erde erquickt sich und bringt als Antwort die Frucht. Der Durchbrechende ist der Andere, er ist der Besucher. Der Erlöser, heißt es, kommt vom Himmel. Er ist Besucher dieser Welt. Er ist auch der große Heiler.
Überall da, wo man glaubt, durch seine Anwesenheit Erleichterung oder Hilfe bringen zu können, komme man als Besucher. Das bedeutet, dass man den anderen in dessen Welt besucht, sich der Umgebung und den Eigenarten des Besuchten anpasst. Man ziehe sein Kleid an, benutze seine Worte, seine Denkart. Denn die Anwesenheit des erlösenden Besuchers wird dann die Welt des Kranken neu befruchten.
Durch diese Anwesenheit bekommen alle früheren Worte und Begriffe neues Leben. Der Regen hat eben die Frucht hervorkommen lassen. Es regnet nicht Früchte, die Welt bringt durch den Regen ihre Früchte, je nach Boden, nach Klima, je nach der Saat, hervor.
Der Himmel schickt die Engel zur Welt, auch den heilenden Engel. Und dieser spricht die Sprache der Welt. Das ist die Bedeutung des Krankenbesuchers.
Auszüge aus: Friedrich Weinreb, Vom Sinn des Erkrankens, Bern: Origo 1974, S. 68-71. Abgedruckt in: Sterbenden Freund sein, Hannover 1993, S. 5.