Der Kämmerer aus Äthiopien - abgeschnitten vom Leben

Aus der Bibelarbeit über Apostelgeschichte 8,26-39 anlässlich der Vollversammlung der Deutschen Bibelgesellschaft vom 16.-18. Juni 2003 in Bäk bei Ratzeburg.

26 Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist. 27 Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. 28 Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. 29 Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen! 30 Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest? 31 Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. 32 Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese: "Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. 33 In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen." 34 Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem? 35 Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus. 36-37 Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert?s, dass ich mich taufen lasse? 38 Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn. 39 Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich. 

Da haben sich zwei gesucht und gefunden: Philippus und der Kämmerer aus dem "Mohrenland", wie Luther das übersetzte. Und es geht um das Verstehen der Heiligen Schrift.

"Suchen und Finden. 2003. Das Jahr der Bibel" - so heißt das Motto für uns in diesem Jahr. Es gibt wohl keine Geschichte in der Bibel, die unser Thema so deutlich behandelt wie diese: Suchen. Und Finden. Und die Bibel - jedenfalls ein gewichtiger Teil von ihr.

1.) Die Heilige Schrift kommt vor - in Form der ins Griechische übersetzten Jesaja-Rolle. Der Kämmerer aus Äthiopien hat sie käuflich erworben bei seinem Festbesuch in Jerusalem. Das setzt Bibelübersetzung und Bibelproduktion voraus und womöglich eine erste Bibelgesellschaft in Jerusalem.

Sie wird tatsächlich auch gelesen - was ja gar nicht so selbstverständlich ist, wie wir aus eigener schmerzlicher Erfahrung wissen. Wie viele Bibelproduktionen werden gekauft oder verschenkt und dann doch leider nicht gelesen!

Der Kämmerer liest in der Jesaja-Rolle - aber er versteht das Gelesene nicht, jedenfalls nicht gleich und, wie wir noch sehen werden, nicht ohne fremde Hilfe. Das ist ziemlich normal, das kommt häufig vor, ja das ist eigentlich die Regel. Die Bibel - ein viel gekauftes, aber nicht ebenso oft gelesenes und noch weniger oft verstandenes Buch. Aber ein Buch, von dem wir möchten, dass es gekauft, gelesen und verstanden, ja ins eigene Leben umgesetzt wird!

2.) Das Suchen kommt vor - vor allem in der Vorgeschichte unseres Textes. Es wird nicht direkt so benannt. Aber es gibt Suchbewegungen der durch Verfolgung zerstreuten ersten Christusanhänger. ? In unserer Haupterzählung, der wir uns wieder zuwenden wollen, begegnet uns der "Kämmerer aus dem Mohrenland", der Finanzminister der äthiopischen Königin Kandake, auch als ein Suchender. Er, den die Tradition als einen dunkelhäutigen Eunuchen beschreibt, reist hinauf nach Jerusalem, zu einem jüdischen Fest, um dort anzubeten.

Was sucht er dort - in einem anderen Land, in einer fremden Religion, mit seinen großen Gaben und seinem Handicap? Hatte ein Finanzminister am Hofe der Königin in Äthiopien nicht genug zum Leben, zum Arbeiten, zur Zerstreuung, zur Unterhaltung, zum Vergnügen? Es fehlte wohl etwas Entscheidendes: Anbetung. Vor wem konnte ein so Mächtiger, vor dem sich alle verneigten und in dessen Umgebung sich wohl viele Rücken gekrümmt haben müssen, selber sich verneigen und in Wahrheit anbeten? Seine Königin war es offensichtlich nicht, die er, wie andere vor und nach ihm, etwa mit Gott hätte verwechseln können und die ihm dann genug der Hingabe gewesen wäre.

Da musste noch etwas mehr und anderes sein in seinem Leben, was er wirklich suchte, dem er sich hingeben, anbeten und für das er einfach da sein konnte! So etwas findet sich nicht so leicht, da muss man lange suchen, auch vorgegebene Rollen aufgeben. Das geht eigentlich nur in der Fremde, wo einen keiner kennt!

Er war nicht mehr in seiner Funktion, Aufgabe und Rolle, als er sich unter die Pilger in Jerusalem mischte. Hier durfte er auf eine ganz andere und neue Weise Mensch sein - nur er, mit einer bestimmten Frage und Suche im Herzen.

3.) Gefunden wird auch in dieser Geschichte - in Vorgeschichte und Haupterzählung. Auch da wird gefunden, findet sich der rechte Mann zur rechten Zeit am rechten Ort: fern von Jerusalem, im Gaza-Streifen, mitten in der Wüste. Das geht nicht ohne Engelhilfe. Es ist ja immer göttliche Energie im Spiel, wenn zwei sich suchen und finden, wenn zusammenkommt, was zusammengehört. Denn ein merkwürdiges Wortspiel findet sich hier im Text mit Gaza, der Stadt, und "gaza", dem Staatsschatz, den der Kämmerer verwaltet.

Gefunden wird vor allem der entscheidende Inhalt der Schrift. Der Kämmerer liest in Jesaja 53,7-8, was gerade jetzt dran ist und später sein Leben verändern wird. Solches Finden kommt auch heute noch vor, wenn ich wie "zufällig" an Menschen und Texte gerate, die mir helfen, mich selber besser zu verstehen und den Schritt der Entwicklung zu gehen, der gerade vor mir liegt.

4.) Doch schauen wir genauer hin, was da gefunden wird! Der Kämmerer liest (auf Griechisch, jetzt aber wiedergegeben in unserer revidierten Luther-Übersetzung): "Wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wen aber kümmert sein Geschick? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volks geplagt war."

Vermutlich blieb der kastrierte Kämmerer aus dem Mohrenland am zweiten Teil des 8. Verses aus Jesaja 53 hängen: "aber in seinem Geschlecht - wer mochte klagen, dass er abgeschieden war aus dem Land der Lebendigen - ihm der Schade geworden war ..." (in der Übersetzung Martin Bubers, sehr nah am hebräischen Original).

Wie mochte der Eunuch da wohl gestutzt haben, weil einer, wenn auch aus ganz anderen Gründen, litt wie er und abgeschnitten war aus dem Land der Lebendigen! Zwei Verse weiter steht bei Jesaja, dass er Nachkommen haben und in die Länge leben wird, "und des Herrn Plan wird durch seine Hand gelingen" (Kap. 53, Vers 10). Ob er noch so weit gelesen und ihn das getröstet hat? Dass auch Menschen ohne Kinder, kastriert oder vorzeitig aus dem Leben gerissen, Nachkommen haben können auf eine andere, geistliche Weise? War es das, was ihn quälte und wonach er suchte? Heil zu werden an seinem Geschlecht und an seiner Nachkommenschaft?

Wir wissen es nicht. Nichts davon steht da. Aber möglich wäre es, wenn wir genau hinschauen und hinhören und uns einfühlen in die Lebensfragen eines Menschen.

5.) In unserer biblischen Erzählung geht es um eine ganz andere Frage: "Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem?" Philippus nimmt diese Frage des Kämmerers zum Anlass für eine eindrucksvolle Predigt des Evangeliums von Jesus Christus, zu der ihm der verlesene Text einige Stichworte liefert. Diese Verkündigung und Auslegung muss aber weit über den vorliegenden Text hinaus gegangen sein, denn sie enthielt ja wohl auch einen Hinweis auf die Taufe.

Denn im weiteren Verlauf der Dinge richtet sich das Interesse der beiden Männer auf ein Fließgewässer, an dem sie vorbeikommen: "Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert's, daß ich mich taufen lasse? Und er ließ den Wagen halten, und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn."

Auf der sachlichen Ebene können wir nun also folgendes feststellen: Der Kämmerer hat gleich ein Doppeltes begriffen: Christusglaube und Taufe gehören zusammen, und Jesus stößt - anders als das jüdische Gesetz - keinen zurück, auch einen Eunuchen wie ihn nicht. Diese Zuversicht deutet er mit der Frage nach dem Taufhindernis an. Und indem er diese Frage stellt, verneint er sie. Das einzige Taufhindernis, so wird deutlich, ist der Unglaube.

Und dem historisch-kritisch Interessierten fällt natürlich sofort auf: Lukas hat dem Kämmerer wahrscheinlich mit dieser Frage eine liturgische Formel seiner Zeit in den Mund gelegt, die auch an einigen anderen Stellen in der Apostelgeschichte (10,47; 11,17) anklingt: Vor der Taufe musste die Frage nach dem Taufhindernis ausdrücklich verneint werden. Auch in dem nur von einem späteren Textzeugen gebotenen Vers 37, nämlich in der hier angedeuteten Tauffrage und dem darauf antwortenden Taufbekenntnis, dürfen wir Urzellen der frühchristlichen Taufliturgie sehen. Wahrscheinlich hat man schon früh dieses Taufgespräch vermisst und eingefügt - auf Grund der alten Übung, zum Abschluss des Katechumenenunterrichts unmittelbar vor der Taufe ein Bekenntnis zu sprechen. Jedenfalls hat dieses Taufgespräch eine sehr altertümliche Gestalt. Denn sie setzt nicht eine trinitarische Taufformel voraus wie Matthäus 28,19, sondern wie die Apostelgeschichte durchgehend eine Taufe auf den Namen Jesu allein. Dieses Bekenntnis des Kämmerers in Vers 37 ist jedenfalls das älteste und kürzeste Taufbekenntnis, das uns überliefert ist.

Aber das Wichtigste geschieht doch in der existentiellen Entscheidung. So kommt Bibellektüre im Hören auf eine verständige Auslegung zum Ziel: Sie verändert das Leben. Da hat einer nicht nur gelesen, sondern auch zugehört und verstanden. Und, was noch viel wichtiger ist: Er setzt es um in eigenes Handeln.