Invokavit

Annäherungen an den Predigttext Hebräerbrief 4,14-16

Ergebnisse eines Gesprächskreises für die mittlere Generation der Dom­gemeinde Schleswig:

Sprache, Satzbau und fremde Vorstellungsbilder verstellen das unmittel­bare Verstehen des Textes.

Was heißt "Thron der Gnade"? Welche Aufgaben hat ein "großer Hoherpriester"? Wieviele "Himmel" gibt es denn, die zu durchschreiten sind? Wie finde ich den Zugang zum "Thron der Gnade"? Durch Gebete, durch Glauben?

Es ist tröstlich zu wissen, daß einer mich kennt und mitfühlt mit meiner Schwachheit.

Jesus kennt unsere Schwächen. Auch er wurde in Versuchung geführt, aber er hat nicht gesündigt.

Ich bin verheiratet, ich war schon mal im "siebten Himmel". In alten Kir­chen finden sich Mosaikbilder in der Apsis mit einem Thronsitz, darauf steht das Lamm Gottes.

Kathedralen haben einen Thronsitz für den Bischof. Wir sprechen auch heute noch vom "Amtssitz" des Bundespräsidenten.

Mir fällt die Redensart ein: "Gehe nicht zum Fürst, wenn du nicht gerufen wirst".

Das "Hinzutreten" kennen wir aus dem Gottesdienst: Nach der Einladung zum Abendmahl tritt die Gemeinde an die Altarstufen heran zum Empfang des Abendmahls.

"Gnade" ist ein theologisch hoch aufgeladener Begriff. Im weltlichen Bereich gibt es noch "Gnadenerweise" der Staatsoberhäupter, die Verurteilte vorzeitig aus der Haft entlassen können. Der Text mündet in einen warmen, seelsorgerlichen Grundton: "Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben". Aber diese gute Nachricht ist in eine sehr fremde, unvertraute Vorstellungswelt eingebettet.

In der demokratischen Gesellschaft von heute kennen wir keine Throne mehr, vor die wir treten - mit Zittern und Zagen womöglich oder auch mit Zuversicht. Aber die Erfahrung, daß wir auf Gnade und Barmherzigkeit angewiesen sind, kennen wir schon - wenn wir unsere Schuld eingestehen müssen, keine Rechtfertigungsgründe mehr haben, mit bloßem Selbst­behauptungswillen nicht mehr weiterkommen. Dann brauchen wir die aus­gestreckte Hand - "zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben".

Im Rechtswesen gibt es noch einen Rest vom "Thron der Gnade": Der Bun­despräsident hat das Recht und die Befugnis, "Gnade vor Recht" ergehen zu lassen, unter bestimmten Umständen Begnadigungen auszusprechen.

Angesichts dieser Einrichtung, die zum Rechtsstaat unverzichtbar dazu­gehört, kann man sich fragen, ob "Gnade" zu erweisen nicht die eigentliche Aufgabe der Herrschenden ist. Deshalb gibt es ja wohl auch die Anrede "gnädiger Herr".

Die gnädige, Ausnahme darf gemacht und zugelassen werden, ohne den Rechtsfrieden zu verletzen, wenn sie von einem dazu Befugten in weiser und heilender Weise praktiziert wird. Ohne Ausnahme kann ein Recht auch schnell "gnadenlos" werden.

Wenn, es schon im Rechtswesen wichtig ist, nicht "gnadenlos" Recht zu sprechen und zu verurteilen, wieviel bedeutsamer ist derselbe Vorgang dann erst im religiösen Bereich, in der Gott-Mensch-Beziehung?

Gott ist ein gerechter Richter. Aber er ist nicht gnadenlos. Der Schöpfer allen Lebens versteht sich auf Barmherzigkeit (was im Hebräischen mit "Mutterschoß" zusammenhängt) und auf Gnade, das wahre Privileg aller auf dem Thron Sitzenden.

Sein Gnadenerweis bekommt dadurch einen besonderen Akzent, daß er den Himmelsthron verlassen hat, um uns in Jesus Christus nahezukom­men. Gott kommt dem Bittsteller entgegen und nimmt den Bittenden in die Arme, ehe er sich ihm zu Füßen werfen kann. Auf einmal entschlüsselt sich auch das fremde und ungewohnte Bild des Hebräerbriefes für dieses Entgegenkommen: Nicht Gott steht auf von seinem Thron und eilt durch den Thronsaal dem Menschen in gnädiger Absicht entgegen, sondern Chri­stus durchschreitet, die Himmel und bahnt den Zugang zum Vater, damit die Menschen zuversichtlich hinzutreten können.

Die fremden Bilder werden deutlicher und verstehbar: So wie der Hohe­priester in Israel allein einmal im Jahr am Versöhnungstag einen Zugang hatte zum Allerheiligsten, so hat Jesus durch sein Lebensopfer ein für alle­mal den Zugang zum gnädigen Gott eröffnet.

Er ist ein besonderer Hoherpriester dadurch, daß er auch auf die menschli­che Seite gehört, Schwachheit und Versuchung kennt, aber ohne Sünde geblieben ist.

"Ohne Sünde sein" - das heißt, ganz zu Gott gehören, freien Zutritt zu sei­ner Sphäre haben. Und so bahnt dieser Hohepriester, der Gott und Mensch zugleich ist, den Weg zum Thron der Gnade im Himmel und auf Erden. Der Himmel scheint mit mehreren Sphären und Räumen ("die Himmel") so ähnlich gegliedert zu sein wie der Tempel in Jerusalem mit Vorhof, Heili­gem und Allerheiligstem. Der Vorhang ist zerrissen, der Zugang aufgetan. Christus, wahrer Mensch und wahrer Gott, eilt hin und her zwischen der Schwachheit der Menschen und dem Thron der Gnade. Er bringt Gott zu den Menschen und die Menschen zu Gott, damit auch sie freien Zugang haben zu der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit.

Der Zutritt zu den "Thronen" der Herrschenden wird heute über das Proto­koll geregelt und ist ein höchst komplexer Vorgang mit Anmeldung, Vorla­dung, Vorstellung und Audienz. In der christlichen Gemeinde ist der Zugang zum Heiligen, zum Sakrament, anders geregelt: "Der Herr sei mit euch. Und mit deinem Geiste. Die Herzen in die Höhe. Wir erheben sie zum Herren. Lasset uns danksagen dem Herrn, unserm Gotte. Das ist wür­dig und recht. Wahrhaft würdig und recht, billig und heilsam ist's ... Kommt, denn es ist alles bereit. Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist."

Auf diese Weise können wir doch auch mit Zuversicht hinzutreten zum Altar mit Brot und Wein, dem Leib und dem Blut Jesu Christi, zum "Thron der Gnade", "damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben". Bei der Abendmahlsentlassung heißt es dann: "Das stärke und bewahre euch im rechten Glauben zum ewigen Leben."

Über das Gnadenprivileg des Bundespräsidenten, diesem letzten Rest eines weltlichen "Gnadenthrons", ist uns die ganz andere Versöhnungs­praxis in Israel am Versöhnungstag im Salomonischen Tempel deutlich geworden. Und daran angelehnt und doch wiederum ganz anders in Praxis und Auswirkung der christliche "Gnaden­ort" des Abendmahls.

An der Gabe des Abendmahls sollen wir festhalten, "damit wir Barm­herzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben". Tägliches "Hinzutreten zum Thron" (wie z. B. in Taizé) schafft erst die Intimität, die wir dringend nötig haben, wenn uns die Sinne schwinden. Ich finde, daß der Text gar nicht mehr so fremd ist, wie es am Anfang den Anschein hatte.

Peter Godzik

Abgedruckt in: Erhard Domay (Hg.), Gottesdienstpraxis - Serie A: II. Perikopenreihe, Band 2: Septuagesimae bis Kantate, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1998, S. 34-36.