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Karl Schmidt-Rottluff, Gang nach Emmaus, 1918

Jesus als Seelsorger

Bibelarbeit über Lukas 24,13-35 für Vikare in der Region Schleswig

1. Da blieben sie traurig stehen ... Ihre Augen wurden gehalten, daß sie ihn nicht erkannten.

Die Situation der Menschen, die des Seelsorgers bedürfen: ihre menschliche Entwicklung ist unterbrochen, sie bleiben traurig stehen auf ihrem Lebensweg, sie können ihre Umgebung (die Realität) nicht mehr richtig erkennen, sie sind gefangen und gehalten von großer Traurigkeit, Ratlosigkeit und Verzweiflung.

2. Da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen.

Der erste Schritt in einer seelsorglichen Beziehung sollte von großer Behutsamkeit bestimmt sein: sich nähern, ein Stück mitgehen, aufmerksam zuhören.

Wichtig dabei ist, daß ich mir meiner selbst ein Stück weit bewußt bin, wenn ich mich jemand anderem nähere, mit ihm ein Stück mitgehe. Weder er noch ich sollen dabei in Angst geraten. Das setzt Selbsterfahrung und Selbstgewißheit voraus.

3. Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Reden, die ihr zwischen euch handelt unterwegs ... Und er sprach zu ihnen: Was denn?

Durch behutsames Fragen wird erreicht, daß der Seelsorge-Bedürftige sich seine Probleme von der Seele reden kann. Sprache befreit aus Unbegriffenem, bringt wieder in Fluß, was vorher gehemmt oder verstopft war. Seelsorge ist zuerst Hilfe zum Gespräch.

4. Und er legte ihnen in der ganzen Schrift aus, was darin von ihm gesagt war.

Das Gespräch allein heilt den tiefen Schaden freilich nicht. Es kommt darauf an, den Sinn in all dem Unsinn zu erkennen, tiefer zu verstehen, was geschieht, und bereit zu sein zur Annahme. Seelsorge ist also Verstehenshilfe und Sinndeutung.

Allerdings verfügt der Seelsorger nicht über den Sinn, er stiftet ihn nicht, sondern er ist vorgegeben in der beide, Seelsorger und Ratsuchenden, umfassenden Wirklichkeit Gottes. Diesen Sinn gilt es, gemeinsam im Gespräch zu finden. Der Seelsorger kann dabei wie ein Pfadfinder tastend vorangehen. Der Sinn wird sich erst auf dem Wege gemeinsam erschließen.

5. Und sie kamen nahe zu dem Orte, da sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.

Seelsorge als Gespräch und Verstehenshilfe führt ganz in die Nähe des angestrebten Ziels. Manchmal können die Menschen die weiteren Schritte dann allein gehen. Dann ist es wichtig, daß der Seelsorger losläßt und sich nicht weiter aufdrängt. Es geht nicht um ihn und seine Bedürfnisse nach Dauerkontakt oder einer perfekten Lösung. Es geht um Ermöglichung, Befähigung zu eigenen Schritten für den Ratsuchenden. Es ist wichtig, zwischendurch probeweise loszulassen, um zu sehen, wie weit der andere ist.

Genügt die bisherige Seelsorge durch Gespräch und Verstehenshilfe nicht, heißt es, die Herausforderung zu einer helfenden Beziehung, einer Partnerschaft auf Zeit als Reifungshilfe anzunehmen und dem Ratsuchenden eine zeitlang als ganzer Mensch nahe zu sein.

6. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.

Jesus gibt sich ganz, allerdings symbolisch vermittelt im Essen und Trinken. Das zeigt, wie wichtig es ist, die richtige Ebene zu finden, um den anderen zu sättigen und ihm eine Nachreifung zu ermöglichen. Es gibt Formen der ganzheitlichen Hingabe, die eher auf frühkindlichen, unreifen Ebenen fixieren, statt eine befreiende Entwicklung zu initiieren. Die Regression muß immer im Dienste der Progression stehen.

7. Und er verschwand vor ihnen.

Es ist sehr wichtig, über die angemessene Lösung der seelsorglichen Beziehung nachzudenken. Beide Seiten müssen damit leben können, daß ein wichtiges Stück gemeinsamen Weges nun zu Ende gegangen ist. Gerade die Lösung einer zwischenmenschlichen Beziehung bedarf der Aufhebung im religiösen Raum. Die gemeinsame Bindung an Gott wird die Trennung erleichtern. Das verbindend Dritte bewahrt die Lösung einer Beziehung vor dem Rückfall in Mißtrauen und Zweifel.

8. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns ... Und sie standen auf zu derselben Stunde ... Und sie erzählten ihnen, was geschehen war.

Das ist das Ziel der Seelsorge: ein lebendiges Herz; die Kraft, aufzustehen und hinzugehen ins Leben zu den Menschen; wahrnehmungsfähig und mitteilsam zu werden.

Erst im Hingehen und Leben wird deutlich, daß die ursprüngliche Hemmung, das traurig Stehenbleiben, überwunden ist.

Pastor Peter Godzik, Büdelsdorf

Schleswig, Gemeindehaus auf dem Michaelisberg, den 6. September 1983