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Die Heilung des Gelähmten

Bild: Kees de Kort

Die beiden Kernkompetenzen der missionarischen Doppelstrategie
nach Mk 2,1-12:

  • Öffnen
  • Verdichten

Auf dem Weg nach Emmaus

Bild: Kees de Kort

Die acht Schritte eines projektorientierten Gemeindeaufbaus
nach Lk 24,13-35:

  • Wahrnehmen
  • Mitgehen
  • Zuhören
  • Verstehen
  • Weitergehen
  • Bleiben
  • Loslassen
  • Aufstehen

Leitbilder im Gemeindeaufbau der VELKD

Leitbild der "Doppelstrategie"

Die "Doppelstrategie" versuchte noch, mit einem Verzicht auf ein eigenes Kirchenbild auszukommen und bediente sich eines funktionalisierten Kirchenbegriffs, der sich auf die zwei Arbeitsweisen bzw. Termini "Öffnen und Verdichten" reduzieren ließ. Den biblischen Hintergrund sahen Hermann von Loewenich und Dietrich Peters, die Vorsitzenden des Gemeindeausschusses der VELKD während der Entwicklung der "Doppelstrategie", in der Heilung des Gichtbrüchigen in Mk 2,1-12. Drei Konsequenzen zogen sie aus der biblischen Erzählung für ihre Konzeption:

  • Der Weg zum Glauben führt - erstens - in die Nähe zu Jesus Christus. Der Zugang zu dem Raum, in dem Jesus Christus wirkt, muß geöffnet werden, dafür sind Hindernisse und Schwierigkeiten zu beseitigen.
  • Der Weg zum Glauben baut - zweitens - die Distanz zu Gott ab und rechnet mit dem gegenwärtigen Handeln Gottes.
  • Schließlich führt der Weg zum Glauben - drittens - zuerst zwar "noch nicht in eine bestimmte festgefügte Gemeinschaft ... und (zu) einem bestimmten Frömmigkeitsstil", aber dann doch "immer in Gemeinschaft mit Menschen hinein", wenngleich "die Teilhabe an solcher Gemeinschaft" verschieden gestaltet sein kann (a.a.O.).

Mit der biblischen Erzählung von der Heilung des Gichtbrüchigen wurde der Weg der Öffnung des Raums für das Evangelium hin zum Verdichten des Glaubens in der Gemeinschaft beschrieben. Den Verfassern lag an der Darstellung und der Abfolge des Geschehens, das sich in nacheinander folgenden Stufen unweigerlich vollziehen sollte. Mk 2,1-12 verdeutlicht adäquat das Konzept und die theologische Dimension der "Doppelstrategie", das Fehlen eines umfassenden Kirchenbildes muß dennoch als Defizit konstatiert werden.

Leitbild des "projektorientierten Gemeindeaufbaus"

Das Kirchenbild des "projektorientierten Gemeindeaufbaus" ist der lukanischen Erzählung von den beiden Emmaus-Jüngern, die an Ostern mit dem Auferstandenen unterwegs sind (Lk 24,13-35), in verschiedenen Zügen vergleichbar. "Sterbende begleiten - Seelsorge der Gemeinde" nimmt diese lukanische Erzählung als Grundstuktur für das Projekt. Die acht Schritte lassen sich aber auch auf die gesamte Konzeption des "projektorientierten Gemeindeaufbaus" übertragen:

Wahrnehmen: In der Gemeinde beginnt ein Prozeß, eine Gemeindeanalyse entsteht, der "Ist-Stand" wird offengelegt ("da blieben sie traurig stehen", Lk 24,17). Die fernstehenden Getauften werden als Gemeindeglieder und Gesprächspartner wahrgenommen, das Evangelium wird als Auftrag erkannt, ein gemeinsames Ziel der Gemeindearbeit wird formuliert.

Mitgehen: Eine gemeinsame Wegstrecke wird verabredet, eine Einladung zum Mitgehen ergeht an einzelne Personen ("da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen", Lk 24,15). Wie Kleophas und sein Freund, die beide nicht zum engeren Jüngerkreis gehörten, werden die Gemeindeglieder besonders eingeladen, die an anderen Aktivitäten der Kirchengemeinde nicht beteiligt sind. Alle, die sich auf den Weg einlassen, sind über Aufwand und Ziel des Weges unterrichtet. Sie verpflichten sich verbindlich, den Weg bis zum Ende mitzugehen.

Zuhören: Die Anknüpfung an die Erfahrungswelt der Weggenossen ermöglicht und bildet den Einstieg zum Gespräch ("Und sie redeten von allen diesen Geschichten", Lk 24,14). Die Erfahrungen des Gesprächspartners sind für die anderen hilfreich und eine Bereicherung ("Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs?" Lk 24,17). Durch heterogene Voraussetzungen der Teilnehmer entstehen neue Einsichten. Vertrautheit entwickelt sich, und die Sprachfähigkeit in Glaubensfragen nimmt zu.

Verstehen: Zu "meiner Geschichte" und zu "deiner Geschichte" kommt "seine Geschichte" hinzu ("Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war", Lk 24,27). Die Projekte setzen die biblische Botschaft in die Mitte und versuchen, Bezüge zum Erfahrungshorizont der Teilnehmer herzustellen; es gibt keine Sekundärmotivationen, die zur Teilnahme animieren. "Wort" und "Antwort" korrespondieren miteinander, legen sich gegenseitig aus und tragen zum tieferen Verstehen beider Teile, des biblischen Glaubens und des eigenen Lebens, bei.

Weitergehen: Über das vereinbarte Ziel hinaus gibt es keine weitergehenden Absichten. Eine Vereinnahmung der Teilnehmer zur kontinuierlichen Mitarbeit findet nicht statt. Wer den begonnenen Weg des Glaubens nach der ersten festgelegten Wegstrecke abbrechen oder allein weitergehen möchte, ist frei für diese Entscheidung. Die Gemeinde Jesu Christi ist bestrebt, Glauben wecken und stärken zu helfen und nicht die eigenen Aktivitäten um ihrer selbst willen zu betreiben. Die Begleitung erfolgt nur als zeitlich befristetes Angebot, solange die Hilfe wirklich benötigt wird ("Und er stellte sich, als wollte er weitergehen", Lk 24,28). Nach der ersten Projektphase erfolgt zwischendurch probeweise ein Loslassen, um zu erkennen, wie weit die Teilnehmer sind.

Bleiben: Die Projekte vertreten einen ganzheitlichen Anspruch. Spiritualität und Glaubensinhalte verbinden sich miteinander ("Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben", Lk 24,29). Jesus wendet sich den beiden Emmaus-Jüngern mit seiner ganzen Person zu und vermittelt sich selbst in Brot und Wein. Das gemeinsame Abendmahl im Gemeindegottesdienst ist zum Abschluß aller Projekte von zentraler Bedeutung.

Loslassen: Das gemeinsame Stück des Weges geht zu Ende ("Und er verschwand vor ihnen", Lk 24,31). Damit Neues entstehen kann, muß Altes vergehen. Der feste Abschluß eines Projekts ermöglicht dem einzelnen Teilnehmer und der Gemeinde eine neue Disposition. Die gemeinsame Bindung an den christlichen Glauben verbindet auch ohne regelmäßige Kontakte.

Aufstehen: Die neugewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse müssen anderen Menschen mitgeteilt werden ("Und sie standen auf zu derselben Stunde ...", Lk 24,33). Ein Gemeindeaufbauprojekt soll die Kraft vermitteln, aufzustehen und hin zu anderen Menschen zu gehen, ihnen von der Hoffnung des Glaubens zu erzählen. Im Aufstehen und Hingehen wird deutlich, welche Veränderungen sich vollzogen haben. Der Prozeß, der in einer Gemeinde durch ein Projekt begann, wirkt weiter.

Im "projektorientierten Gemeindeaufbau" wird Kirche als Gemeinschaft von Menschen verstanden, die gemeinsam einen Weg vor Gottes Angesicht gehen. Die traurigen und müden Emmaus-Jünger stehen für die auf ihrem Wege müde gewordene und mit sich selbst beschäftigte Gemeinde. Sie benötigt den Zuspruch des Wortes Gottes ebenso wie die Bereicherung durch die neuhinzukommenden "Fremden", damit ihnen die Augen aufgehen und sie in Bewegung geraten und sagen können: "Brannte nicht unser Herz, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?" (Lk 24,32). Die Botschaft von Jesus Christus steht im Mittelpunkt des gemeinsamen Weges. Der gemeinsame Weg und das Ziel werden vorher verabredet. Der christliche Glaube selbst wird als verbindliche Größe in der Lebensgestaltung erachtet, denn jeder Teilnehmer verpflichtet sich, den Weg bis zum vereinbarten Ziel mitzugehen, sich selbst mit seiner Person, seinen Erfahrungen und seinem Glauben einzubringen und Verantwortung für den Weg auf sich zu nehmen. Die Gemeindeaufbauprojekte setzen beim Selbsterfahrungsinteresse des modernen Menschen an und integrieren seinen Lebensrhythmus in eine gemeindliche Arbeitsform. Die partizipatorische Leitungsstruktur der Projekte symbolisiert außerdem anschaulich und für die Teilnehmer erfahrbar eine Dimension des "Priestertums aller Getauften".

Alfred Seiferlein

Literatur:

  • Karin Lorenz/Horst Reller (Hrsg.), Alternative: Glauben. Missionarische Arbeitsformen in der Volkskirche heute, Gütersloh: Gütersloher 1985.
  • Andreas Ebert/Peter Godzik (Hrsg.): Verlaß mich nicht, wenn ich schwach werde. Handbuch zur Begleitung Schwerkranker und Sterbender im Rahmen des Projekts "Sterbende begleiten - Seelsorge der Gemeinde", Hamburg: E.B.-Verlag Hamburg-Rissen 1993, S. 5 f.
  • Alfred Seiferlein, Projektorientierter Gemeindeaufbau, Gütersloh: Gütersloher 1996, S. 173-176.