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Prof. Dr. Isidor Baumgartner

Isidor Baumgartner: Seelsorgerliche Begleitung in Lebenskrisen

1. Begleitung in Lebenskrisen - ein Emmausgang

In Kapitel 24, Vers 13-15 gibt uns Lukas die Ur-kunde davon, wie sich seelsorgliche Begleitung in Lebenskrisen unter nachösterlichen Bedingungen ereignet. Er erzählt in der Emmausgeschichte, verdichtet auf symbolisch-narrative Bilder, wie Menschen damals und heute, angesichts ihrer "durchkreuzten Lebenspläne", ihrer "Blindheiten" (V.16) und "Traurigkeiten" (V. 17), ihrer vielfältigen Kränkungen und Krankheiten Christus als Arzt und Heilmittel ihres Lebens erkennen können. Lukas entwickelt, auf dem Hintergrund der Glaubenserfahrung der frühen Gemeinden, an der Begleitungspraxis des Auferstandenen ein ganz bestimmtes (Weg-)Schema einer heilenden Seelsorge in Lebenskrisen.

Der erste Schritt der Pastoraltherapie des Auferstandenen besteht darin, daß er zu den im Zusammenbruch aller Hoffnungen blind gewordenen Jüngern, deren Leben zerstört scheint und die nur noch die Flucht als Ausweg aus der Aporie sehen, "hinzutritt" und "mit ihnen geht" (V. 15). Beziehung - Koinonia - ist somit die Grundbewegung aller heilenden Auferweckungspraxis, aus der alle anderen Schritte hervorgehen. Im Hinzukommen und Mitgehen leuchtet am deutlichsten das Geheimnis eines beziehungswilligen Gottes auf, der dem "blinden" und "trauernden" Menschen therapeutisch gesinnt ist. Hier geschieht die entscheidende Gottesauslegung angesichts menschlicher Aporie: Gott geht in den Krisen des Lebens an unserer Seite.

Der unerkannt mitgehende Herr verwickelt die Jünger in die selbstkritische (Psycho-)Analyse ihrer enttäuschten Hoffnungen. "Er fragt sie: Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Da blieben sie traurig stehen..." (V. 17). Solches mäeutisches Fragen auf den Fokus der Lebenskrise hin nötigt zur Unterbrechung. Man kann nicht mehr einfach alles übergehen, sondern ist gezwungen, dem eigenen Zustand "standzuhalten", auch wenn der Wunsch zum "Flüchten" übermächtig wird. Der Begleiter mutet zu und ermutigt, die erlebten Verletzungen zu "erinnern", zu wiederholen und durchzuarbeiten" (Freud). Nur so, wenn dem auf den Grund gegangen wird, was traurig macht, nur über den "Weg zum Grab" der Enttäuschungen (vgl. V. 22), kann die krankmachende Verblendung gegenüber der Wahrheit des Lebens aufgehoben werden. Der mitgehende Begleiter verrichtet mit seiner mäeutisch-fragenden Psychotherapie, die an dieser Stelle des Weges ausgesprochen diakonischen Charakter trägt, einen unverzichtbaren Dienst zum Bestehen der Lebenskrise.

Wer bei den Verletzungen der eigenen Lebensgeschichte mutig gegen alle Verdrängungstendenz standgehalten, wer "Trauerarbeit" geleistet hat, der wird offen für das Studium der wahren Hoffnungen. In der Schrift, ausgelegt von einem, der das Herz in der Brust zum Brennen bringen kann (V. 27.32), entdecken die Jünger eine neue Hinsicht auf ihr durchkreuztes Leben. Sie freunden sich an mit der Krisenanfälligkeit und Todesinfiziertheit menschlicher Existenz, indem sie "Gottes Herrlichkeit" entdecken, die darin besteht, daß er selbst sich mit Kreuz und Leiden der Menschen bekleidet und es dadurch in seine Auferstehungsbewegung hineingenommen hat. Bei dieser Art von Schriftauslegung - Martyria - lernen sie, in der Heiligen Schrift ihres eigenen Lebens, die von allem Anfang an Gott selbst zum Verfasser hat, zu lesen.

So "mystagogisch" in das Geheimnis ihres Lebens eingeführt, können sie hineingehen (V. 29) zur eucharistischen Feier der Nähe Gottes. Hier in der "Liturgie" wird ihnen in einer letzten Kulmination der wahre Blick auf ihr Leben eröffnet. Sie erkennen (V.31) den Herrn, auf den sie die ganze Zeit zugeschritten sind und der unentwegt auf dem Weg aus Blindheit und Traurigkeit an ihrer Seite ging, als die heilende Wahrheit ihres Lebens.

Den Auferstandenen sehen und ihn ihm Heilung erfahren, ist nicht das Ende des inneren Emmausganges. Vielmehr drängt solche Erfahrung zur Mitteilung. Die von der Lebenskrise Geheilten suchen die Erzählgemeinschaft der Glaubenden, denen in ähnlicher Weise der Herr erschienen ist. Sie brechen auf nach Jerusalem (V. 33).

Bei dieser seelsorglich orientierten Annäherung an die Emmauserzählung kommt in Blick, daß der Weg aus den Krisen und Kränkungen des Lebens ein innerer Prozeß ist, der vom Begleiter unterschiedliche "Methoden" verlangt: Koinonia, Diakonia, Martyria, Leiturgia. Durch diese Art von Auferweckungspraxis gibt, nach dem Verständnis der lukanischen Gemeinde, der Auferstandene den deprimierten Emmausgängern Anteil an jener heilenden Grundbewegung Gottes, die den Menschen vom Tod ins Leben führt und die in ihm in Vollendung begegnet. Zugleich erkennen die Jünger an dieser "Methode" des Auferstandenen, hinzuzukommen und mitzugehen mit jenen, die am Abgrund des Lebens stehen, den Jesus ihrer gemeinsamen Tage vor Ostern.

2. Jesu heilende Praxis als Maßstab

Die vorösterliche Auferweckungspraxis Jesu angesichts menschlicher Krisen bildet folglich den ausführlichen Text dafür, was die Emmauserzählung auf wenige Bilder verdichtet. Jesu Sorge um die vielfältig Leidenden, Kranken und von Dämonen Besessenen wird von den Evangelien geradezu als die unverwechselbare Tatsache charakterisiert, in der sich der Anbruch der Basileia Gottes kundtut: "Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gelangt" (Lk 11,20). Für Jesus gehören so Heilen und die Basileia Gottes verkünden untrennbar zusammen. Er spricht von beiden in einem Atemzug, z. B. in der Antwort an die Johannesjünger: "Blinde sehen, Lahme gehen und Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet (Lk 7,22). Seinen Sendboten trägt er auf, wie er zu handeln: "Und er sandte sie aus mit dem Auftrag, das Reich Gottes zu verkünden und zu heilen" (Lk 9,2; 9,6). Indem Menschen von Krankheit und Kränkung geheilt werden, indem sie Begleitung in den Krisen ihres Lebens erfahren, gewinnt die angebrochene Basileia Gottes Gestalt. Heilung, Begleitung, das ist die jesuanische Weise der Gottesauslegung angesichts menschlicher Krisen.

Diese heilende Begleitungspraxis Jesu, und wie sie in den Gemeinden der frühen Kirche im Licht von Ostern weitergeführt wurde, gibt den Maßstab ab für eine seelsorgliche Begleitung in Lebenskrisen heute. Im Hinzukommen und Mitgehen mit den vielfältig Leidenden trägt die Seelsorge der Gemeinde und Kirche am deutlichsten jesuanische Züge, hier betreibt sie Gottes ureigenes Handwerk.

Gemeinden und Seelsorger müssen sich deshalb immer wieder kritisch fragen, ob bei ihnen ein heilendes Klima anzutreffen ist, so daß Menschen sich eingeladen fühlen, in Emmausgängen ihren Enttäuschungen und Hoffnungen auf den Grund zu gehen. Sie dürfen der Frage nicht aus dem Weg gehen, ob in ihrer Mitte die Zusage Jesu den Leidenden gegenüber wirklich aufkommen kann: "Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein!" (Mk 5,34). Vor allem aber haben sie immer wieder neu den Weg der Begleitung, wie ihn die Glaubensurkunden zeichnen, auf die je gegenwärtigen seelischen Krisen der Menschen hin zu entwerfen.

3. Koinonia - Hinzukommen und Mitgehen

Hinzukommen und Mitgehen als die elementare Bewegung aller Begleitung in Lebensnöten und Lebenskrisen besteht zu einem hohen Grad im "Sehen" der Not des andern. Das richtige Sehen, Wahr-nehmen, ist psychologisch stimmig auch vom christlichen Idealbild des Helfers, vom barmherzigen Samariter, als erste Maßnahme ausgesagt: "Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie" (Lk 10,33f). Die Sinne und das Herz für die vielfältigen Krisensymptome und -signale der Menschen zu sensibilisieren, dies ist folglich eine wesentliche Anforderung an den seelsorglichen Begleiter. Einiges vermag dazu die moderne Entwicklungspsychologie beizutragen.

Die "Life-events-Forschung" der Entwicklungspsychologie, die sich mit den "kritischen Lebensereignissen" in der Biographie befaßt, rückt ins Blickfeld, daß nicht nur die schmerzlichen Erfahrungen wie Tod eines Angehörigen, Trennung, Krankheit, Verletzung, Arbeitslosigkeit, Pensionierung u. ä. zur seelischen Krise und zur Erschöpfung der psychischen Kräfte führen können. Vielmehr bringen auch vordergründig erfreulich eingeschätzte Ereignisse wie Hochzeit, Geburt eines Kindes, beruflicher Aufstieg, Schulabschluß, Urlaub oder Feiertage nicht selten ein hohes Krisenpotential mit sich. Es zeigt sich, daß, entgegen der intuitiven Annahme, Krisen nicht nur mit tragischen Schicksalsschlägen, auch nicht nur mit bestimmten Lebensphasen vorrangig in Zusammenhang stehen. Sie bilden vielmehr ein Konstitutivum jeder Lebensphase und jedes Menschenlebens.

Plausibel erscheint die vielfach vertretene These, daß die Häufung von Krisen in der Lebensgeschichte als charakteristisches Signum unserer Zeit und ihrer soziokulturellen Verhältnisse gelten können. Ursächlich dafür sei die plurale Gesellschaft, die mit ihrem widersprüchlichen Sinnangebot den einzelnen bei der Konstruktion seiner Lebenswelten der Partnerbeziehung, der Familie oder des Berufs weitgehend alleine lasse, ja ihn dabei durch subtile Zwänge torpediere und so zu seiner permanenten Sinnkrise und seelisch-geistigen Desorientierung beitrage.

Zur seelsorglichen Sensibilität gehören auch Grundkenntnisse über den phasischen Verlauf der seelischen Krisen. Auch wenn die einschlägigen Wissenschaften keinen für alle Krisen typischen Verlauf angeben können - die je individuelle Persönlichkeit mit einmaliger Lerngeschichte und ganz spezifischen Handlungsmustern, aber auch die Verschiedenheit der Krisenfaktoren und -auslöser lassen dies nicht zu - so scheint doch der Prozeß des Trauerns den meisten Krisen inhärent. Die Trauer, bei der es den Verlust von Rollen, Status, Gewohnheiten und Alltagsstrukturen zu verarbeiten gilt - "Trauerarbeit" - kann somit dem Seelsorger Anhaltspunkte für die vielen anderen Krisenerfahrungen der Menschen liefern.

Nach Verena Kast durchlebt der Trauernde zuerst ein Stadium des Nicht-Wahrhaben-Wollens, auch als "Schockphase" bezeichnet. Sodann bricht über ihn ein Chaos der Gefühle herein: Wut, Freude, Zorn, Angst, Schuldgefühle, Ruhelosigkeit. Die regressive Eruption dieser Gefühle muß ihm von der Mitwelt, auch vom begleitenden Seelsorger unbedingt gestattet werden, um einer Chronifizierung der Trauer zu entgehen. In der Phase des Suchens, Findens und Sich-Trennens entsteht im günstigen Fall ein zunehmend realistisches Bild vom Verstorbenen, es wird entdeckt, daß das Leben für einen selbst bisher noch ungelebte Möglichkeiten bereithält. In der Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs "wird bewußt, was in der Beziehung zum Verstorbenen in einem angesprochen wurde, was er aus uns herausgeliebt hat, und was wir durch den Verlust der Beziehung ja nicht verlieren."

Der Prozeß des Trauerns, hier als typisch für die meisten Krisenverläufe verstanden, macht darauf aufmerksam, daß jede Krise einen ambivalenten Charakter aufweist. Sie gefährdet einerseits die physische und psychische Intaktheit der Person aufs äußerste, konfrontiert mit dem existentiellen Scheitern, wie es im Phänomen der "versäumten Trauerarbeit" auch seelsorglich begegnet, andererseits liegt in solchen Kernerfahrungen die bedeutsame Chance zum persönlichen Wachsen. Gerade diese "biophile" Kehrseite der Krise veranlaßt Herrmann Hesse in seinem wunderbaren Gedicht "Stufen", den Mut zum Abschied und Neubeginn auszusprechen:

"... Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauer
In andre, neue Bindungen zu geben...
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!"

Die Fähigkeit zur Wahrnehmung und, im weiteren Verständnis, zum Hinzukommen und Mitgehen mit dem von der Krise betroffenen Menschen erwächst freilich nur zu einem gewissen Teil aus der kognitiven Kenntnis des Verlaufs oder des ambivalenten Charakters der seelischen Krise. Das "Sehen" oder "Vorübergehen", wie es das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) markant gegenüberstellt, hängt zutiefst von der Persönlichkeit des Seelsorgers, seinen Ängsten und Zielen, seinen bewußten und unbewußten Helfermotiven ab. "Blinde Passagiere" an Bord der Seelsorgerpersönlichkeit, wie etwa der unbewußte Wunsch, Macht auszuüben, oder den von der Krise Betroffenen parasitär am Leben teilhaben zu wollen, erschweren das Hinzukommen und Mitgehen.

Man muß sogar annehmen, daß die lebensgeschichtlich gewachsenen "blinden Passagiere" der Seelsorgerpersönlichkeit dazu verleiten, das Hinzukommen und Mitgehen mit Menschen in Lebenskrisen schlichtweg zu vergessen. Empirische Untersuchungen kommen zu dem beunruhigenden Schluß, daß die Begleitung in Lebenskrisen faktisch zu den pastoralen Randereignissen zähle, wobei dies wiederum in einem eklatanten Gegensatz zu den Erwartungen der Menschen nach persönlicher seelsorglicher Hilfe in Lebenskrisen stünde. Zu bedenken wäre freilich in diesem Zusammenhang auch, ob das mögliche "Vorübergehen" der Seelsorger an den "Blinden", "Trauernden" und "Ausgeraubten" nicht auf dem Hintergrund eines "strukturellen Vergessens" der heilenden Seelsorge im Getriebe der konventionellen Pastoral wächst. Koinonia zu lernen, dies wäre nicht nur zuweilen schmerzhafte Aufgabe des einzelnen Seelsorgers und Christen, sondern der Gemeinden, der Theologie und der Kirche insgesamt.

4. Diakonia - Die Wunden verbinden

In diesem diakonischen Schritt der seelsorglichen Begleitung in Lebenskrisen, wie ihn die Emmauserzählung nahelegt, kommt es sowohl auf Erste-Hilfe-Maßnahmen, als auch auf eine tieferführende, mäeutisch-therapeutische Bearbeitung der Krisenfaktoren an. Will man aus den äußerst disparaten Konzepten der psychosozialen Krisenintervention ein Fazit ziehen, so sind vom Begleiter in Lebenskrisen vor allem folgende Fähigkeiten verlangt:

  • Einfühlung in die innere Welt des Betroffenen (Empathie),
  • Aufmerksames Wahrnehmen und Erkennen der problemrelevanten Informationen,
  • Die eigenen Wünsche, Werte und Lebensmaximen nicht mit den Informationen des Betroffenen vermischen (Gefahr der Gegenübertragung),
  • Richtige Einschätzung der psychischen und physischen Gefährdung, des Zustandes vor der Krise, der Kraftquellen und Veränderungsmotivation des Betroffenen,
  • Bescheid wissen über das staatliche und kirchliche psychosoziale Versorgungssystem, einschließlich der zu beachtenden administrativen und gesetzlichen Prozeduren,
  • Fähigkeit, wenigstens vorübergehend als Anwalt des Betroffenen bei Behörden oder Bezugspersonen aufzutreten,
  • Gesprächsverhalten, das an bewährten Methoden der Beratung und Psychotherapie orientiert ist.

5. Martyria - "Jesus Christus als den Gekreuzigten" verkünden (1 Kor 2,2)

Auf die Frage, wie dem von der Krise betroffenen Menschen "der Sinn der Schrift" (Lk 24,32) auf seine Lebenssituation hin erschlossen werden könne, wird man sich vorschneller Rezepte enthalten müssen. Wesentlich erscheint, daß der Seelsorger selbst mit dem unerkannt mitgehenden Gott in den dunklen Phasen des Lebens rechnet, ganz so wie es die Emmausgeschichte anklingen läßt. Seine Überzeugung, daß die Krise Situation des Menschen vor Gott und ihre Überwindung Gottes Anliegen ist, wird sich dann auch dem Begleiteten mitteilen.

Gott geht an unserer Seite. Dies ist bereits die Überzeugung des alttestamentlichen Bundesvolkes. Wenn das Glaubensbekenntnis der Israeliten "Jahwe ist unser Gott" (Jos 24, 15ff; 1 Kön 18,21ff) erklärt werden soll, so kann dies im Verständnis der alttestamentlichen Schriften nicht anders geschehen als daß man erzählt, wie Jahwe sein Volk aus den tiefsten Krisen immer wieder herausgeführt hat, wie er es befreite von Mühsal und Bedrängnis und in ein Land brachte, "wo Milch und Honig überfließt" (vgl. Dtn 25,5-9).

Nichts anders erzählt die frühe Kirche, wenn sie das Urbekenntnis des NT "Jesus ist der Christus" ausfalten will. So etwa Ignatius von Antiochien: "Jesus (ist der) Christus, der aus dem Geschlecht Davids, der aus Maria stammt, der wahrhaft geboren wurde, aß und trank, wahrhaft verfolgt wurde unter Pontius Pilatus, wahrhaft gekreuzigt wurde und starb vor den Augen derer, die im Himmel, auf Erde und unter der Erde sind, der auch wahrhaft auferweckt wurde von den Toten, da ihn sein Vater auferweckte; nach diesem Vorbild wird uns, die wir glauben, sein Vater auch so auferwecken in Christus, ohne den wir das Leben nicht haben."

Für die glaubende Deutung der Lebenskrise ist zuerst die von Ignatius eindringlich hervorgehobene "wahrhafte" Geburt Jesu Christi, sein "wahrhaftes" Essen und Trinken, oder wie der erste und zweite Johannesbrief es ausdrücken: daß "Jesus Christus im Fleische gekommen ist" (1 Joh 4,2; 2 Joh 7) von entscheidender Bedeutung. In Jesus Christus wissen wir folglich einen von uns, einen "wahrhaften" Menschen, der selbst einen inneren Weg mit Krisen, kritischen Lebensereignissen und Reifungsprozessen gegangen ist und deshalb dieser Seite unseres Menschseins göttliches Ansehen gibt. Die Evangelien bekunden dies, wenn sie von einer Versuchung Jesu sprechen.

Sodann geben die "wahrhaften" Heilsereignisse Verfolgung, Kreuzigung unter Pontius Pilatus, Sterben und Auferweckung Jesu Christi von den Toten unseren Lebenskrisen eine völlig neue Bewertung. Das Kreuz von Golgotha gilt den Christen als das zentrale Zeichen für Gottes Standort angesichts menschlicher Krisen und Todesinfiziertheit, daß er an ihnen ebenso handeln wird wie an Jesus Christus. Er verdichtet die entscheidenden Koordinaten menschlicher Existenz: die horizontale Verzweiflung am menschlichen Leben wird durchbrochen von Gottes vertikalem Rettungsgriff, mit dem er all unsere menschliche Krisenhaftigkeit zum Leben wendet.

Seelsorgliche Begleitung, die sich in diese rettende Bewegung Gottes hineingestellt sieht, wird freilich nicht einfach von diesem treuen Rettungshandeln Gottes reden können. Vielmehr wird das freue Mitgehen des Seelsorgers selbst am überzeugendsten davon künden. Darüber hinaus mag sich im seelsorglichen Begleitungsgespräch der Kairos einstellen, wo es möglich und geboten ist, ausdrücklich Gottes Treue, wie sie im Kreuz von Golgotha zum Ausdruck kommt, zur Sprache zu bringen.

Hierbei besteht die erste pastorale Konsequenz aus dem Leiden Jesu am Kreuz nicht darin, den von der Krise Betroffenen aufzufordern, sein Kreuz aus der Hand Gottes demütig anzunehmen, sondern darin, mitzuwirken, seine Not so weit wie möglich zu begrenzen und zu beheben. Erst wenn wir alles getan haben, was in unserer Kraft steht, werden wir das Kreuz Christi zur Deutung dessen heranziehen dürfen, was an Leid wir beim besten Willen nicht verändern können. In dieser Situation vermag der Blick auf das Kreuz den Menschen in der Nacht der Verzweiflung aufzurichten, läßt ihn mit Gottes Gnade "gegen alle Hoffnung voll Hoffnung" sein (Röm 4,18). Die seelsorgliche Rede vom Kreuz sollte unmißverständlich diese Schrittfolge einhalten, andernfalls vergißt sie Gottes Grundbewegung, die auf die Überwindung des Leidens und nicht auf das Sich-Abfinden mit dem Leiden zielt.

6. Liturgie - Die Antwort der Sakramente auf die Krisen der Menschen

Das Faszinierende an den symbolischen Ausdrucksformen, zu denen in besonderer Weise die liturgische Feier der Sakramente zählt, ist ihre Fähigkeit, gleichzeitig vielschichtige und widersprüchliche seelische Erfahrungen in Szene zu setzen und zu verdichten auf ein Bild, einen Gegenstand oder eine Handlung. Der Mensch ist zu Recht von Ernst Cassirer als "animal symbolicum" charakterisiert. Er kann gar nicht anders als alles, was ihn unbedingt angeht, seine tiefsten Gefühle, seine schmerzhaftesten Verletzungen, seine spürbarsten Grenzen, seine letzten Fragen und seine größten Hoffnungen symbolisch mitzuteilen.

Die sakramentalen Symbole des Glaubens "inszenieren" so in einem "heiligen Spiel" ambivalente Urerfahrungen, die vor Entscheidungen stellen - auch dies gehört zum Bedeutungsfeld "Krise" -, und bringen sie in Richtung einer verläßlichen Antwort voran. Wenn Christen in der Eucharistie Brot essen, ihre Hand in Weihwasser tauchen, sich mit dem Zeichen des Kreuzes bezeichnen, niederknien oder einen Toten beerdigen, immer bringen die religiösen Symbole und Handlungen etwas von der gespürten Urgefährdung, von der dem Leben innegewohnten Krise zur Sprache und stellen dieser Aporie die heilende und schützende Macht Gottes entgegen. In den Symbolen der Liturgie geschieht somit eine handelnde Korrelation von Lebenskrise und Antwort des Glaubens. Die Krisenhaftigkeit menschlicher Existenz wird mit der ausdrücklichen Erinnerung an Gottes zentrale Heilstat zusammengebunden und entscheidend umgedeutet. Wenn also Christen liturgisch und symbolisch erzählen, wie Gottes Sohn in dem Bauhandwerker Jesus von Nazareth Mensch geworden ist, wie er sich auf Leid und Tod eingelassen hat und wie er am dritten Tage auferweckt wurde, dann geben sie damit ihren eigenen Leiden, ihren Krisen, ihrer Angst vor dem Tod, ihrer ganzen Existenz eine neue Bedeutung. Sie wissen, wie die Emmausjünger, in den Krisen und Übergängen des Lebens Gott an ihrer Seite. Indem die Liturgie diese Begleitungspraxis Gottes erinnert und vergegenwärtigt, wird sie selbst zu einem Ort der Überwindung der Lebenskrise von Gott her.

7. Gemeinde - Ort des Erzählens von Gottes Begleitungspraxis

Nach der Emmausgeschichte finden sich jene, denen auf ihrem Weg aus der Krise der Herr erschienen ist, in Jerusalem zusammen, um zu erzählen. Dies darf man doch so verstehen, daß unsere Gemeinden der Ort sein sollen, wo man mit seinen Krisen ein offenes Ohr und Herz findet, und wo ein reichhaltiger Erfahrungsaustausch geschieht darüber, wie Gott in den Krisen des Lebens an unserer Seite geht.

Isidor Baumgartner

Lebendige Seelsorge, Heft 1/1989, S. 36-42 (dort auch die hier nicht wiedergegebenen Anmerkungen und Belege).