Das himmlische Jerusalem

von Eugen Drewermann

Was erwartet uns jenseits der Grenzmarke des Todes? Diese Frage legt sich auch die Kirche in immer wechselnden Bildern von neuem vor. Denn auf diese Frage brauchen wir eine Antwort, damit unsere Hoffnung stark und unsere Erwartung reich genug sei.

Als man im sechsten Jahrhundert vor Christus den Buddha fragte: "Wie wird es sein, wenn sich unser sterblicher Leib auflöst?", antwortete er seinen Schülern der Wahrheit gemäß: "Das weiß ich nicht. Das einzige, was ich weiß, ist: Dies Leben besteht aus Leid, Mühsal, Tränen, Leere und Plage. Wem dies nicht genügt, um die Gesetzmäßigkeit, die uns an dieses Dasein fesselt, auflösen zu wollen, mit dem weiß ich keinen Grund zu reden." - "Wird das Jenseits sein", fragten die Jünger den Buddha, "wie ein Stein, der daliegt, oder wird es sein, wie wenn man an einem sonnendurchfluteten Sommernachmittag sich in den warmen Wellen eines Flusses treiben läßt, und das Wasser umspielt den Körper, und der Geist empfindet dies, halb träumend und halb bewußt?" - "Haltet ein, ihr Jünger", sagte der Buddha, "all dies weiß ich nicht."

Ein wenig unterscheiden wir Christen uns von den Buddhisten in diesem Punkt. Wohl wissen auch wir: das Leben ist oder kann sein voller Leid und Leere, Tränen und Klage. Aber was uns jenseits der Marke des Todes erwartet davon lassen wir nicht ab, uns Vorstellungen zu erträumen und zu machen, und wir loten hinab in die Tiefen der Seele, in welcher Gott, als er unsere Seele schuf, Bilder angelegt und geformt hat in nicht endenden Weisen der Vorstellung. So die Geheime Offenbarung, die Bilder des Sehers von Patmos: "Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde". Er beschwört uns bei diesen Worten offensichtlich, alles zu vergessen, was wir kennen inmitten einer Welt der Angst, umrauscht von dem Tosen des anbrechenden "Meeres". "Ich sah den Himmel wie eine neue Stadt, ein heiliges Gemeinwesen, ein ewiges Jerusalem."

Natürlich malt sich auch das Jenseits nur in den Spiegelungen dieser Welt. Dennoch wird dabei das Irdische zur Verheißung und zum Versprechen einer ewigen Heimat, wie wenn wir hinfänden zu unserem eigentlichen Ursprung, zu einem Ur-Bild des Paradieses. Die Erde gewinnt ihren Mittelpunkt zurück, unser Leben zentriert sich um die richtige Achse, unser Dasein ordnet sich und findet sein Maß, gelangt hin zu der Stelle, wo der Himmel die Erde berührt und Gott unser Herz umschließt Denn anders als in den krampfhaften Versuchen des babylonischen Turms, den Himmel zu erzwingen, zu machen oder zu erstürmen, ist das Glück unseres Lebens ein Geschenk, das sich "herabsenkt von oben".

Aber wie wird es sein in einem himmlischen Jerusalem? Es wird so sein, meint die Geheime Offenbarung, daß man sich eine Stadt denken muß, die geschmückt ist mit Liebe. So gibt es manche Nachmittage, an denen beginnen die Steine zu reden in der Sprache der Sehnsucht, und alle Mauern reden Worte der Liebe, und der Wind in den Straßen flüstert Worte der Zärtlichkeit Und alles redet nur von den Menschen, denen man am nächsten ist in der Liebe. Wenn so die ganze Welt anhebt zu singen und sich verklärt in dem Gesang der Zärtlichkeit ahnen wir schon auf der Erde ein Stück vom Himmel. Es mag uns gehen, wie wenn wir irgendwann des Sommertags im Grase liegen und tauchen ein in die Verwandtschaft und Verschwisterung alter Lebewesen und begreifen mit einemmal ein Stück von der Harmonie der Welt. So kann eine Lerche beginnen zu singen, wenn sie in der Luftsäule aufsteigt und ihr ganzes Wesen nach außen trägt im Gesang. So kann es sein, wenn alles ringsum zum Symbol und Bild wird und zum Gleichnis der Menschen, denen unser Herz gehört. Wir können in der Liebe einander Blumen schenken und lassen sie reden in der Sprache, für die unsere Worte nur schwerlich taugen. Rosen, Lilien und Orchideen reden anders als die plumpen Worte unseres Mundes, aber unser Herz berührt sich damit und will im Grunde nur sagen, daß wir den Menschen, die wir Heben, die Sonne vom Himmel holen konnten oder den Mond und ihnen zu Füßen legen möchten. Denn alles ist ein Bild für sie, das Gras, die Sterne und das Nachtgewand des Himmels, alles erinnert an die Gestalt des anderen.

Wenn so die ganze Welt sich formt zur Poesie der Liebe und zur Musik der Zärtlichkeit dann spürt man, wie es ist, wenn Gott zu reden beginnt, tief aus dem Inneren der Seele eines jeden. "Von seinem Thron herab", sagt der Seher von Patmos, "hörte ich seine Stimme sprechen: Seht mein Zelt unter den Menschen." Wir werden Gott nicht sehen können mit den Augen unserer Endlichkeit, aber wir werden ihn unter uns spüren im Kraftfeld der Liebe, seine Stimme wissen im Gesang der Poesie und seine Nähe unvergeßlich, deutlich, bis zur Grenze des Sichtbaren, in den Augen des anderen fühlen.

Einem jeden Menschen, dem wir nahekommen in der Liebe, öffnen wir ein Fenster, durch das Gottes Licht hereinfallt und jeder Mensch, der uns gegenübertritt mit Augen, die gut sind, öffnet uns ein Fenster in die Ewigkeit

Es werden jenseits der Marke des Todes die Unterschiede zwischen den Menschen nicht aufhören, denn sie bedingen, was wir als Personen sind; die Unterschiede zwischen Mann und Frau werden nicht aufhören, denn unterschiedlich malt sich die Welt in der Seele eines Mannes und im Herzen einer Frau, die Liebe bedarf dieser Unterschiede. Aber es werden aufhören die Unterschiede der Kulturen, der Rassen und Nationen. Bleiben wird nur, was wesentlich ist im Gesang der Ewigkeit

Einzig so kann man sich eine Ewigkeit "vorstellen" - in der es keine Traurigkeit und keine Klage, keine Mühsal und keine Tränen gibt In Ewigkeit können wir wünschen und hoffen, aufeinanderzu zu reifen und immer tiefer uns zu verwurzeln in dem gemeinsamen Grund der Liebe, die wir Gott nennen. Denn Langeweile schließt die Liebe aus, Müdigkeit und Herzensschwäche verträgt sich nicht mit ihrer Begeisterung, und der nie erlahmende Schwung des Glücks wird uns verbinden mit uns selber, miteinander und darin als sein Volk in Ewigkeit mit Gott.

Aus: Christ in der Gegenwart, Nr. 38/1983, S. 305.