Vom Tode

von Khalil Gibran

Dann sprach Almitra: "Wir möchten dich nun über den Tod befragen."
Und er antwortete also:
Ihr möchtet wissen um das Geheimnis des Todes.
Doch wie solltet ihr es entdecken, so ihr nicht danach forschet im Herzen des Lebens?
Die Eule, deren auf die Nacht beschränkte Augen am Tage erblinden, vermag nicht, das heilige Geheimnis des Lichtes zu entschleiern.
So ihr wahrhaftig den Geist des Todes erschauen wol­let, öffnet weit euer Herz dem Leibe des Lebens.
Denn Leben und Tod sind eins, so wie Fluß und Meer eins sind.
In der Tiefe eures Hoffens und Wollens liegt euer still­schweigendes Wissen um das Jenseits;
Und dem Samen gleich, der unter dem Schnee träumet, so träumt euer Herz von dem Lenze.
Trauet euren Träumen, denn das Tor der Ewigkeit ist darin verborgen.
Eure Furcht vor dem Tode ist nur das Zittern des Hir­ten, so er stehet vor dem König, dessen Hand sich als Zeichen des Wohlwollens auf ihn legt.
Ist der Hirt unter seinem Zittern nicht der Freude voll, daß er das Zeichen des Königs tragen darf?
Und dennoch, ist er sich nicht weit mehr seines Zitterns bewußt?
Denn was bedeutet Sterben anders als nackt im Winde stehn und in der Sonne zerfließen?
Und was bedeutet das Stocken des Atems anders als dessen Befreiung- aus den rastlosen Fluten, auf daß er sich erhebe und entfalte und Gott suche, unbeschwert?
Erst so ihr trinket aus dem Flusse des Schweigens, werdet ihr wahrhaft singen.
Und erst so ihr den Gipfel des Berges erklommen, wer­det ihr anfangen zu steigen.
Und erst, so die Erde ihren Anspruch erhoben auf eure Gliedmaßen, werdet ihr wahrhaft tanzen.

Aus: Khalil Gibran, Der Prophet. Wegweiser zu einem sinnvollen Leben, Olten: Walter 14. Aufl. 1982, S. 59-60.