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Frans Floris, Tamar und Juda

Literatur:

Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. IV. Joseph, der Ernährer. Roman, Frankfurt am Main: Fischer TB 1991.

Das fünfte Hauptstück: Thamar (S. 264-302) ist untergliedert in die Kapitel:

  • Der Vierte
  • Astaroth
  • Thamar erlernt die Welt
  • Die Entschlossene
  • "Nicht durch uns!"
  • Die Schafschur

Thamar oder der unbändige Mut zum Leben

Zu den schrecklichsten Erfahrungen der Frauen in der Geschichte des Patriarchats gehört ihre Behandlung als Rechtsgut und Eigentum des Mannes. "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was sein ist" lautet das zehnte Gebot in der auch heute noch gültigen Katechismus-Fassung Martin Luthers.

Sich nicht selber gehören, sondern einem anderen anvertraut oder ausgeliefert zu sein, ist an sich schon eine beschämende und kränkende Erfahrung. Frauen mußten es aber auch noch ertragen, von den Männern mit den tödlichen Maßstäben doppelter Moral gemessen zu werden. Es waren gefährliche Zeiten, in denen sie leicht als Hexen verbrannt wurden.

Auch hierzu findet sich ein Niederschlag in der biblischen Überlieferung, die dann freilich eine überraschende und die Frauen ermutigende Wendung enthält.

Als man Juda, dem vierten der zwölf Söhne Jakobs, ansagt: "Deine Schwiegertochter Thamar hat Hurerei getrieben; und siehe, sie ist davon schwanger geworden" (1. Mose 38,24), reagiert er darauf überaus heftig und befiehlt sofort: "Führt sie heraus, daß sie verbrannt werde."

So war das selbstverständlich geregelt in patriarchalen Gesellschaften. Das ist rechtlich gesehen inzwischen anders geworden, aber manche Männer reagieren auf der psychologischen Ebene auch heute noch so.

Dabei ist die Thamar-Geschichte eher ein Lehrstück für den unbändigen Lebensmut von Frauen, die sich um keinen Preis davon abbringen lassen wollen, dem Leben mit ihren Kräften zu dienen.

Thomas Mann schreibt über Thamar in seinem Roman "Joseph und seine Brüder": "Zwei Söhne hatte sie vertilgt aus Israel, als sie hinabgestiegen war in der Zeit, und lieferte zwei ungleich bessere dafür, da sie wieder hinaufstieg." (S. 1170 f.)

Sein Thamar-Kapitel hat dieser mutigen Frau und allen nach Gleichberechtigung strebenden Frauen ein unvergeßliches literarisches Denkmal gesetzt: "Auf das Weib aber kam?s an, und darauf, daß das rechte just hier am schwächsten Punkt sich einschalte. Dem Schoße des Weibes galt die erste Verheißung. Was lag an den Männern!" (S. 1159)

Generationen von Theologiestudenten haben am Beispiel dieser Geschichte gelernt, daß im Hebräischen "Gerechtigkeit" keine absolute Norm, sondern ein Verhältnisbegriff ist. Als Juda erkennt, daß er selber hinter dieser ungewöhnlichen Schwangerschaft steckt, sagt er vor all den Zeugen dieser für ihn so peinlichen Szene: "Sie ist gerechter als ich."

Die Fragen von Moral und Ethik, die uns heute beschäftigen, müssen auf dem Hintergrund dieser Geschichte so beantwortet werden, daß ein lebensdienliches Verhalten dabei herauskommt und keine tödliche Moral, die zwar im Prinzip recht hat, aber dann doch die beteiligten Menschen übergeht, vernachlässigt und kränkt.

Die herrschende Moral wird freilich nach wie vor von den Männern bestimmt und dient überwiegend ihren eigenen Interessen. Ich erspare es mir, das an einzelnen Beispielen zu belegen. Auffällig ist nur, daß zentrale Konfliktsituationen des weiblichen Lebenszusammenhangs - sexuelle Gewalt innerhalb und außerhalb der Ehe, die strukturelle Ungerechtigkeit der Hausfrauenarbeit, die gesellschaftliche Doppelbelastung von Familienmüttern, der berufliche "Wiedereinstieg" und andere typische Konfliktsituationen der weiblichen Biographie - in der überwiegend von Männern bestimmten ethischen Diskussion trivialisiert oder ganz verschwiegen, in älteren moraltheologischen Werken eher romantisiert und als zum Wesen der Frau gehörig erklärt werden.

Dagegen ziehen Konfliktsituationen, die nur oder vor allem im Leben von Männern vorkommen - etwa Fragen des Wehrdienstes oder die Frage nach dem Umgang mit Eigentum -, unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit auf sich, so daß die Gefährdungen männlicher Freiheiten und Güter als zentrales Problem traditioneller Ethik erscheinen.

Wo das Verhalten von Männern gegenüber Frauen zum Thema gemacht wird, verschleiert oft ein harmonistisches Vorverständnis des Geschlechterverhältnisses den Blick auf die Wirklichkeit: Während in der politischen Ethik und in der Sozialethik ausführlich über Gewalt reflektiert wird, ist die sexuelle Gewalt von Männern an Frauen und Mädchen immer noch ein weitgehend tabuisiertes Thema. Im umfangreichen Sachregister des "Handbuches der christlichen Ethik" (Freiburg/Gütersloh 1978-82) z.B. kommt der Begriff "Vergewaltigung" nicht vor.

Der Entwicklungspsychologin Carol Gilligan ist es aufgefallen, daß sich die meisten entwicklungspsychologischen Modelle fast ausschließlich auf empirische Befragungen von Männern stützen und ihr Konzept moralischer Reife unhinterfragt vom männlichen Sozialcharakter ableiten: Die Fähigkeit, sich möglichst unabhängig von konkreten Umständen an abstrakten Prinzipien zu orientieren, gilt als höchste Stufe moralischer Reife des Menschen. Gemessen an diesem Stufenschema müssen Frauen mit ihren anderen Orientierungen dann notwendig als unreif erscheinen.

Carol Gilligans Arbeit hat es zum ersten Mal ermöglicht, sehr bewußt zwischen einer Ethik des Rechts und einer Ethik der Fürsorge und Verantwortung zu unterscheiden und damit die moralische Entwicklung und die kognitiven Fähigkeiten von Frauen in einem neuen Licht zu sehen. Nach ihrer Einschätzung ist das moralische Urteil von Frauen stärker kontextgebunden und von der Anteilnahme an konkreten Situationen geprägt als bisher angenommen.

Die Frage nach dem guten Gelingen von Beziehungen steht stärker im Vordergrund als die Frage, wie allgemeinen Prinzipien möglichst gut entsprochen werden kann. Solche "Beziehungsethik" ist männlicher "Prinzipienethik" nicht unterlegen. Sie hat vielmehr als "die andere Stimme" (so der Titel des Buches von Carol Gilligan) eine moralische Kompetenz eigener Art, die ein im Androzentrismus befangener Theoretiker nicht wahrnehmen oder gar als unverzichtbar würdigen kann.

Erinnern wir uns aber noch einmal an die biblische Geschichte. Juda konnte das immerhin zugeben und von Thamar sagen: "Sie ist gerechter als ich." (1. Mose 38,26)