Meditation
Vortrag vor der Loge "Reinholdsburg" im Deutschen Druidenorden, Rendsburg, am 8. Juli 1982
Mit der Meditation ist es wie mit der Liebe. Das Reden darüber ersetzt keine eigene Erfahrung. Und wer sich auf eigene Erfahrung einlässt, hat selten das Bedürfnis, darüber noch viel zu reden. Es ist eine sehr persönliche Erfahrung, die man nur schwer anderen mitteilen kann. Dennoch will ich mich vor der gestellten Aufgabe nicht drücken. Ich will zu Ihnen über Meditation sprechen, freilich auf eine mir vertraute Weise: Ich lese einen biblischen Text zum Thema und will ihn mit Ihnen bedenken, d.h. meditieren, und so etwas über Meditation sagen im Vollzug von Meditation.
Der Bibeltext steht im Alten Testament, im ersten Buch der Könige im 19. Kapitel:
1 Und Ahab sagte Isebel alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte.
2 Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast!
3 Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen Diener dort.
4 Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter.
5 Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iß!
6 Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen.
7 Und der Engel des HERRN kam zum zweitenmal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iß! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.
8 Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.
9 Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über Nacht. Und siehe, das Wort des HERRN kam zu ihm: Was machst du hier, Elia?
10 Er sprach: Ich habe geeifert für den HERRN, den Gott Zebaoth; denn Israel hat deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet, und ich bin allein übriggeblieben, und sie trachten danach, daß sie mir mein Leben nehmen.
11 Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den HERRN! Und siehe, der HERR wird vorübergehen. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben.
12 Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen.
13a Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle.
Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben.
Was ist der Anlass für Meditation? Offensichtlich geht es dabei ums Ganze, ums Leben. Menschen werden in ihrem bisherigen Leben erschüttert, durchleben eine Krise, die sie ängstigt, und machen sich auf, um etwas Neues zu suchen. Meditation macht man also nicht nebenbei, so zum Spaß, sondern weil es ernst ist, weil das eigene Leben in eine ernste Krise gerät. Was ist das für eine Bedrohung von außen?
Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast!
Offensichtlich wendet sich etwas gegen die eigene Person, was man vorher nach außen agiert hat. Alles, was man tut, kommt zu einem zurück. Es gibt einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen außen und innen. Was man anderen antut, tut man auch sich selber an. Wenn man einen äußeren Bogen überspannt, gibt es eine innere Krise. Das hört sich dramatisch an und ist es auch oft. Ein Mensch läuft um sein Leben. Es ist eine allerletzte Warnung: Tu etwas für dich.
Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben.
Meditation ist eine Reise nach innen, die alles andere als ein Spaß ist. Auf dem Höhepunkt einer Krise unternommen, führt sie in gefährliche Tiefen.
von außen nach innen
vom Leben in eine Art Tod
vom Vorgehen zum Zurückgehen
von zeitlicher Bewegung zu zeitlichem Stillstand
von irdischer Zeit in äonische Zeit
vom Ego zum Selbst
von außerhalb
zurück in den Schoß aller Dinge. (Dorothee Sölle)
Eine solche Reise ist wichtig. Sie öffnet sonst verschlossene Türen und macht Menschen wieder ganz und heil. Manchmal klopft unser Inneres leise an und mahnt uns, nach innen zu sehen. Wir überhören solche Mahnungen allzu leicht. Also bleibt dem Inneren nichts anderes übrig, als stärker anzuklopfen, sein Recht bei uns zu fordern. Manchmal werden wir krank. André Gide sagt:
Ich glaube, dass die Krankheiten Schlüssel sind,
die uns gewisse Tore öffnen können.
Ich glaube, es gibt gewisse Tore,
die einzig die Krankheit öffnen kann.
Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand,
der uns nicht erlaubt alles zu verstehen.
Vielleicht verschließt uns die Krankheit
einige Wahrheiten;
ebenso aber verschließt uns
die Gesundheit andere oder führt
uns davon weg, so dass wir uns
nicht mehr darum kümmern.
Ich habe unter denen,
die sich einer unerschütterten
Gesundheit erfreuen, noch keinen
getroffen, der nicht nach irgendeiner
Seite hin ein bisschen beschränkt
gewesen wäre, wie solche,
die nie gereist sind;
und ich erinnere mich,
dass Charles-Louis Philippe
die Krankheiten sehr schön
"die Reisen der Armen" nannte. (André Gide)
Krankheit, Bedrohung von außen, ist sehr oft der Anlass, um zu meditieren, sich auf eine Reise in das eigene, vernachlässigte Innere zu begeben. Das ist der Schlüssel zur Heilung.
Er sprach: Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder.
Was geschieht auf dem Grunde der Krise? Ich habe genug gekämpft, ich gebe es auf, mich zu wehren, ich gebe mich hin. Da ist keine Selbstbehauptung mehr, kein Sich-Aufbäumen gegen das, was geschieht. Ich nehme es hin, ich strecke mich aus, ich lasse an mir geschehen, ich schlafe ein, erschöpft von all dem Kampf. Und bin doch nicht verloren. Ganz tief unten bin ich geborgen unter einem Wacholder. Ein schönes Wort! Einer wacht über mir, einer hält mich. Wenn ich auch leer bin und abgekämpft und schwach, da ist ein Wacholder.
So nimm nun, HERR, meine Seele.
Wer so sprechen kann, hat sie vielleicht selbst zum ersten Mal entdeckt - seine Seele. Da liegt sie - unter dem Wacholder.
Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iß! Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser.
Dorothee Sölle hat zu einer anderen Bibelstelle, dem Gebetskampf Jesu in Gethsemane (Luk 22,39-46), einmal geschrieben:
"Man kann sagen, daß in jedem Gebet ein Engel auf uns wartet, weil jedes Gebet den Betenden verändert, ihn stärkt, indem es ihn sammelt und zu der äußersten Aufmerksamkeit bringt, die im Leiden uns abgezwungen wird und die wir im Lieben selber geben."
Das ist ein wunderschöner Satz. In der Tiefe der Krise ein Engel, der auf mich wartet, der mich aufweckt, der mich stärkt. Ich werde wieder wach, aufmerksam. Das Leiden zwingt mich dazu. In der Liebe verschenke ich es. Meditation heißt Wachheit gegenüber dem Leben. Wer aufmerksam wird auf sich selbst, auf den anderen, auf die Natur um ihn herum - gezwungenermaßen im Leid und freiwillig in der Liebe -, der meditiert.
Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel des HERRN kam zum zweitenmal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iß! Denn du hast einen weiten Weg vor dir. Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.
Mit einem Mal ist es nicht getan. Es ist ein weiter Weg zum eigenen Innern, zum Berg der Gottesbegegnung. Er ist angefüllt mit Wachen und Fasten. Die Kraft der Speise fühlen wir nur, wenn wir anders lernen zu essen: bewusster, aufmerksamer. Leer werden und langsam wieder kauen, schmecken, genießen. Wenn wir trinken mit Verstand und richtig atmen. Wenn wir gesammelte Aufmerksamkeit zuwege bringen, im richtigen Rhythmus von Anspannung und Entspannung. Es ist ein weiter Weg: vierzig Tage und Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.
Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über Nacht. Und siehe, das Wort des HERRN kam zu ihm: Was machst du hier, Elia? Er sprach: Ich habe geeifert für den HERRN, den Gott Zebaoth ...
Am Ende der Reise öffnet sich ein Raum, in dem man sich sehen kann, wie man ist, mit allen Vorzügen und Schwächen. Das also bin ich, ich ganz allein. In einer Höhle über Nacht werde ich neu geboren, kann mich sehen, wie ich bin. Gott sagt zu mir:
Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den HERRN! Und siehe, der HERR wird vorübergehen.
Gott begegnet mir, so wie ich bin. Ich kann heraustreten aus der Höhle, in der ich mich versteckt habe, und dem Leben begegnen. Ich, so wie ich bin. Mit meiner Liebe und meiner unerkannten Sünde - "im Licht vor deinem Angesicht" (Ps 90,8)! Wie kann man sich selber, wie kann man Gott begegnen - ohne alle Verstellung? Ich fürchte mich, vor dem Sturm, vor dem Erdbeben, vor dem Feuer, das jetzt losbricht.
Aber der HERR war nicht im Sturm, im Erdbeben, im Feuer.
"Ein stilles, sanftes Sausen", so übersetzt es Luther. "Eine Stimme verschwebenden Schweigens", sagt Martin Buber. Das ist es: die meditative Erfahrung. Eine Stimme verschwebenden Schweigens. Wer das erlebt hat, dem legt sich ein Leuchten auf das Gesicht, das man nicht zeigen und nicht erklären kann.
Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus ...
Was jetzt beginnt, nennt man die Rückreise, die Rückreise in die Realitäten des Lebens. Ich bin mir selber begegnet und weiß jetzt, was zu tun ist. Elia hat eine ganz neue Gotteserfahrung gemacht, er erhält eine begrenzte Aufgabe und er bekommt einen Mitarbeiter und Nachfolger an die Seite gestellt. Er darf seine Grenzen erkennen und annehmen und seine Begabung und Berufung neu leben. Seine Meditation, seine Gottesbegegnung verändert sein Leben.
Vgl. dazu: Traugott Ulrich Schall, Erschöpft - müde - ausgebrannt. Überforderung und Resignation: vermeiden - vermindern - heilen, Würzburg: Echter 1993.