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Das Sterben: ein Geborenwerden in die Welt bei Gott

Aus: Diakonisches Werk der EKD (Hg.), Hospizarbeit in Kirche und Diakonie. Reflexionen und Konkretionen, Stuttgart: DW-EKD 2002, S. 7-12.

"Zum diakonischen Profil der Hospizarbeit gehört unabdingbar die im täglichen Leben verankerte Akzeptanz von Tod, Sterben und Trauer sowie die gleichzeitige Vermittlung einer christlichen Hoffnung über den Tod hinaus." Diese grundlegende Einsicht wird nur dann lebenspraktisch und lebensdienlich umgesetzt, wenn wir uns klar machen, was im Sterben eigentlich geschieht. Ich habe es besonders durch meinen Stiefvater gelernt, der an Lungenkrebs starb und kurz vor seinem Tode ein beinahe biblisches Wort zu uns Angehörigen sagte: "Lasst mich doch gehen, Gott hat Gnade zu meiner Reise gegeben" (vgl. 1. Mose 24,56).

Wir sprachen über das Zurücklassen der irdischen Dinge und über den Weg in das Licht bei Gott. In dieser Zeit begegnete mir zum ersten Mal das Kinderbuch von Kees de Kort, der in eindrucksvollen Bildern die Geschichte von der Heilung des blinden Bartimäus gemalt hat. Da war zu sehen, wie der blinde Bettler die Utensilien seiner "blinden" Existenz (Hut, Stock, Mantel, Augenbinde) zurücklässt und Jesus nachfolgt.

Auf einmal wurde mir klar, was im Sterben geschieht: Wir lassen die äußere Hülle unserer irdischen Existenz zurück und gehen einen Weg in das Licht bei Gott. Die mittelalterlichen Bilder von der Geburt der Seele aus dem zerfallenden Körper fielen mir wieder ein und das Seelengeleit durch die Engel. Auch Martin Luther hat in seinem "Sermon von der Bereitung zum Sterben" (1519) das Sterben mit der Geburt verglichen.

Ich konnte Einzelheiten einer Geburts- und Sterbegeschichte in dem Bilderbuch von Kees de Kort über die Heilung des blinden Bartimäus entdecken: Der Blinde schreit nach Jesus so laut, dass ihm der Kopf ganz rot anläuft. So sehen manchmal die Babys aus, wenn sie ihren ersten Schrei nach der Geburt tun.

Und als Jesus dem blinden Bettler die Binde abnimmt, gehen ihm beinahe die Augen über vor der Helligkeit und Schönheit dessen, was seine Augen nun zu sehen bekommen.

Das Sterben: Ein Geborenwerden in die Welt bei Gott, ein Zurücklassen der irdischen Hülle, ein Schauen dessen, was wir geglaubt haben. Sterbebegleitung wird dann zu einer "mäeutischen" (entbindenden) Aufgabe: Wir sind nicht Zeugen einer Vernichtung, sondern Hebammen bei einer Geburt. Wir helfen, richtig zu atmen, wir lindern die Schmerzen, wir schauen zuversichtlich nach vorn auf das, was kommt:

Kein Christenmensch soll "an seinem Ende daran zweifeln, dass er nicht allein sei in seinem Sterben. Sondern er soll gewiss sein, dass nach der Aussage des Sakraments auf ihn gar viele Augen sehen. Zum ersten Gottes selber und Christi, weil er seinem Wort glaubt und seinem Sakrament anhängt; danach die lieben Engel, die Heiligen und alle Christen ... Wenn aber Gott auf dich sieht, so sehen ihm nach alle Engel, alle Heiligen, alle Kreaturen; und wenn du in dem Glauben bleibst, so halten sie alle die Hände unter. Geht deine Seele aus, so sind sie da und empfangen sie, du kannst nicht untergehen." (Martin Luther, Sermon von der Bereitung zum Sterben, 1519)

Mit Hilfe dieses tröstlichen Textes haben wir in der Hospizbewegung gelernt, den Sterbenden die Hände nicht auf-, sondern unterzulegen. Sie haben es dann leichter, ihre zarter und zerbrechlicher werdende Hand wegzuziehen, wenn sie keine Berührung mehr wünschen, weil sie sich aufmachen zum letzten Wegstück ihrer Reise, auf dem wir als Begleitende ihnen noch nicht folgen werden.

Immer wieder zweifeln moderne Menschen daran, ob es eine Hoffnung über den Tod hinaus überhaupt geben kann. Sie zweifeln - anders als der blinde Bartimäus -, ob es nach der "Entwicklung" des "blinden" Lebens, dem Abfallen all der irdischen Hüllen und Einschränkungen, überhaupt etwas zu sehen gibt im Licht göttlichen Erbarmens. Diesen Zweifelnden - uns allen - hat Henri J. M. Nouwen eine köstliche Geschichte gewidmet - den Dialog der Zwillinge im Mutterleib.

So ist das Sterben eigentlich anzusehen wie eine Geburt: Wir streifen die Hülle unser vorherigen Existenz ab, sie wird nicht mehr gebraucht und zerfällt in der Erde oder wird verbrannt; unsere "Geistseele" aber bricht hindurch in einen weiten Raum bei Gott, in dem Wärme, Nähe und Anschauung herrscht, wenn wir uns dem Licht zuwenden können - der uns frieren und verloren sein lässt, wenn wir darauf beharren, in ewiger Abgewandtheit von Gott zu existieren. Himmel und Hölle - das bereiten wir uns selbst schon hier auf Erden und erst recht im Jenseits durch unsere Einstellung zu Gott. Aber wer weiß: Vielleicht akzeptiert Gott im Himmel nicht unsere ewige Abwehrhaltung, sondern überwindet uns mit seiner alles verwandelnden Liebe.

Noch eine Überlegung gestattet uns der Vergleich des Sterbens mit der Geburt. Bei der Geburt gilt die Steißlage als eine Komplikation. Rückwärts gewandt hat es das Kind schwer, die enge Pforte des Geburtskanals zu passieren. In früheren Zeiten hat man versucht, diese Steißlage durch behutsames Drehen zu korrigieren, heute schreitet man deshalb eher zum Kaiserschnitt. Wichtig ist mir der Vergleich: Könnte es sein, dass viele Menschen heute in geistlicher Steißlage sterben, den Kopf nicht nach vorn richten können zu dem, was sie jenseits des Todes erwartet? Sie klammern sich mit aller Gewalt an das, was sie hier in diesem Leben vor Augen haben und weigern sich, den Blick in ein Jenseits des Todes zu richten - weil wir doch nichts genaues darüber wissen können. Und so bleiben sie hoffnungslos, ungetröstet und können nicht mitatmen, mitarbeiten bei dem Weg, der auch im Sterben zu bewältigen ist.

Die Geschichte von der Heilung des blinden Bartimäus könnte uns helfen, unseren eigenen Tod mit neuen Augen zu sehen. Wir können so leben, als sei dieses Leben alles, was wir haben, und als sei der Tod einfach etwas Absurdes, und folglich sei es das Beste, überhaupt nicht davon zu reden. Oder wir können uns dafür entscheiden, unsere Bestimmung als Kinder Gottes bewusst zu wählen und darauf zu vertrauen, dass der Tod ein zwar schmerzlicher, aber gesegneter Durchgang ist, der uns von Angesicht zu Angesicht vor unseren Gott stellt.

Und diese biblische Erkenntnis hat ihre besondere und konkrete Bedeutung für die Seelsorge am Sterbebett. Wir wohnen nicht dem Auslöschen oder der Vernichtung eines menschlichen Lebens bei, was uns nur hilflos und wütend sein lässt, sondern wir begleiten einen Menschen bei seinem Übergang in eine andere Welt. Wir sind am Sterbebett "Geburtshelfer" in "Wehen", die wir wie andere Wehen auch durch unser Dasein, durch hilfreiche Handreichungen, durch unser bewusstes Mitatmen und Mitbeten erleichtern können.