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Der ungläubige Thomas (Gerrit van Honthorst, 17. Jh.)

Thomas ist immer der Ernstfall

Einstimmung in den Tag (5. Mai 2011) bei der Psychiatrie-Jahrestagung 2011 des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe (BeB) "Die Sprachen der Seele verstehen - Spiritualität und Psychiatrie" vom 4.-5. Mai 2011 im Bildungszentrum Erkner bei Berlin

Evangelium des vergangenen Sonntags "Quasimodogeniti":

Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten un­ter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, de­nen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten. Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die ändern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben. Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt, und Tho­mas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche dei­nen Finger her und sieh meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gese­hen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! (Johannes 20,19-29)

Liebe Anwesende, der moderne Heilige hat einen sehr alten Namen: Er heißt Thomas, der Zwilling. Er zweifelt. Er will handfeste Beweise. Wie damals. In Finnland nennt man deshalb Got­tesdienste für zweifelnde Menschen Thomas-Messen. Sie wiederholen auf einer symbolisch vermittelten Ebene, was damals geschah: Wie einer nicht nur auf Worte hin glaubte, sondern das Geschenk der Anschauung und Berührung bekam. Und dann glaubte und heil wurde.

Schauen wir genauer hin zuerst wie das geschieht: die Heilung mit dem Wort. Wie es auch heute noch geschieht bei Ärzten, Psychologen, Theologen. Wir sammeln uns und schließen die Tür. Die Menge der andrängenden Welt bleibt ausgeschlossen. Es entsteht ein heiliger Raum der Aufmerksamkeit, der Konzentra­tion auf das Wesentliche.

Wir stellen eine Atmosphäre des Friedens her, in der die Wunden gezeigt werden dürfen. Nicht nur die des anderen, sondern auch die eigenen. Wir berühren einander nicht nur mit Worten, sondern auch mit Blicken und Gesten. Und selbst wenn wir den Versuch machen wollten, uns zu verstecken hinter Kittel, Rolle oder Talar: Es geht ja doch nicht, weil der andere auch Augen im Kopf hat, sieht und fühlt und ziemlich ge­nau weiß, was mit uns los ist.

Therapeutische Intervention heißt Frieden schaffen in einem geschützten Raum und dann den Mut haben, etwas zu geben: einen Hauch von Wahrheit, Lebendigkeit, Hoffnung.

Wir machen es wie Gott: Wir "beatmen" die Leute, schenken ihnen Zeit zum Atem­holen, hauchen sie an (nicht: pfeifen sie an), damit sie wieder aufatmen können. Und dann nehmen wir ihnen die Last, die sie bedrückt, ermöglichen Verzeihen und Ver­gebung; laden jedenfalls dazu ein, die Last abzulegen. Und wer sie unbedingt noch eine Weile behalten will, den lassen wir noch eine Weile gewähren und ermuntern behutsam und Stück für Stück, Lasten abzulegen. Wer zu schnell hilft beim Schlüp­fen eines Schmetterlings, der zerstört die eigene Kraft, sich entfalten zu können. Wir müssen noch sehr viel geduldiger werden.

Und dann begegnet uns Thomas. Der glaubt nicht, was wir zu berichten haben. Der zweifelt. Der will es am eigenen Leib verspüren, was an den verwandelnden Worten und dem lebendig machenden Geist, dem Anhauch der Wahrheit und Liebe, dran ist. Thomas ist immer der Ernstfall für jede therapeutische Intervention. Er will es mit ei­genen Augen sehen, mit seinen Händen begreifen. Er hört nicht einfach aufs Wort. Er will mehr, viel mehr.

Mit Abstinenz oder anderen Formen der Enthaltsamkeit lösen wir das Problem nicht. Wir müssen uns noch einmal drangeben wie Jesus damals - eine Art Wiederholung, aber mit den entscheidenden Variationen.

Also: noch einmal. Abermals. Und nun ist Thomas, nun ist der Zweifler dabei. Und wieder: einen Raum des Friedens schaffen und "Türen zu!" gegenüber der andrän­genden Welt.

Aber dann das Neue, ein Name: Thomas. Zuwendung beginnt so: mit dem Ausspre­chen des Namens!

Und dann: Reiche deinen Finger her. Im Abendmahl ist es die ganze Hand, die aus­gestreckt wird von dem, der etwas nehmen will, berühren und behalten will. Man könnte das zum Erkennungszeichen der Christen machen: die ausgestreckte Hand, die Heilsames empfängt.

Wie bei Robert Lembkes heiterem Beruferaten: Woran erkennt man einen Christen? An der ausgestreckten Hand, die Heilsames empfängt.

Ohne die ausgestreckte Hand oder doch wenigstens den kleinen Finger geht gar nichts: Wer nichts nehmen will, dem können wir auch nichts geben. Doch von wem lässt sich einer gern beschenken? Doch nicht vom Perfekten, son­dern von dem selbst Verwundeten. Nur der verwundete Heiler kann heilen. Die Glat­ten und Unbeschädigten tun es freilich nicht.

Jesus, der auch schon mal sagte, wenn es nötig war: Rühr mich nicht an, sagt hier: Reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite.

Diese Szene haben wir aus verständlichen Gründen symbolisch verwandelt. Wir sa­gen heute: Reiche Deine Hand her, ich lege in sie, was ich zu geben habe: meine Aufmerksamkeit, mein fachliches Können, meine Liebe und Wertschätzung. Ich gebe Dir, was ich zu geben habe. Kann sein, dass Du in Deine ausgestreckte Hand auch den gelegt bekommen möchtest, der sein Leben gab für die Liebe in der Welt, für die Vergebung aller Schuld, auch für Dich und Dein ungewöhnliches Erleben und Verhal­ten. Nimm ihn ruhig ganz hin. Er ist ja doch nur ein Stück Brot und ein Schluck Wein. Wenn Du willst.

Mehr habe ich nicht: mich und ihn. Aber nimm es. Es hilft. Der Mensch ist die Medizin des Menschen.

Und dann hab einfach Vertrauen. Es wird alles gut - wie und weil und obwohl es so ist, wie es ist - Du so bist.

Die Wahrheit der Annahme besteht in diesem Akzeptieren dessen, was in meine Hand gelegt wird mit Aufmerksamkeit und Liebe.

Von den Unaufmerksamen und Lieblosen müssen wir nichts nehmen. Gegen die dür­fen wir uns wehren.

Wir nehmen nicht alles hin, nur das, was heilt und neuen Atem schenkt. Und damals war Thomas begeistert und glaubte. Und auch heute noch nehmen die erst Zögerlichen und Misstrauischen unsere Hilfe an, wenn sie spüren: Das ist wirk­lich eine Gabe.

Aber dann kommt noch ein letztes Geheimnis, und das ist wirklich schwer zu verste­hen, weil sich doch gerade einer geschenkt und gegeben hat: "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!"

Jesus kennt das aus der frühesten Kindheit: Gott ist da, die Mutter (der Vater) ist da, Du kannst es sehen und fühlen, und in der Liebe darfst Du es immer wieder berüh­ren.

Aber es wird auch wieder gehen oder genommen werden - wie Du gehen und ver­gehen wirst. Wirklich behalten kannst Du nur innen.

Also bau das auf: dieses tiefe Vertrauen innen. Auch wenn äußerlich nichts zu sehen und zu spüren ist: Es ist ja da. Innen! Das ist das ganze Geheimnis.