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Klaus Kasch: Christus - Heil für die Welt, 1988.

Peter Godzik: Einüben ins Sterben, 2021

An den Grenzen des Lebens

Die Lesung aus dem Lukas-Evangelium (Lukas 1,67-79), die wir eben gehört haben, thematisiert eine Grenze des Lebens: die Geburt. Ob wir aus diesem Text auch etwas lernen können für die andere Grenze des Lebens: den Tod? Schauen wir genauer hin!

Zacharias redet seinen neugeborenen Sohn Johannes an: "Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Du wirst vor dem Herrn hergehen, dass du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in Vergebung ihrer Sünden ..."

Mit der Anrede "Du, Kindlein" stellt Zacharias seinen Sohn Johannes zugleich in den großen Zusammenhang der Geschichte Gottes. Vor ihm war da göttliche Wirklichkeit und sie setzt sich fort im Leben des Kindes und sie wird auch nach ihm sein. Gottes Geschichte hält und trägt dieses Kind, dass gemäß seiner Lebensaufgabe in der orthodoxen Tradition "Prodromos" heißt: Vorläufer.

Könnte es sein, dass sich daraus schon eine erste Aufgabe für Hospizhelferinnen und -helfer an der letzten Pforte des Lebens ergibt? Dass wir lernen, einander zu sagen und zu bezeugen: "Und du, du wirst jetzt einen bestimmten Weg gehen, der nicht einfach im Nichts endet. Du kommst aus einem größeren Zusammenhang und du gehst in einen größeren Zusammenhang. Du bist eingezeichnet in die Geschichte Gottes, aufgehoben in seiner Hand. Du kommst aus Geborgenheit und Aufgabe und du gehst in Geborgenheit und Aufgabe."

Was weissagt Zacharias über die großen Taten Gottes, was versteht er - eine Zeit lang stumm geworden, wartend und hoffend und dann aus der Tiefe seines Herzens redend - von der Wahrheit des Lebens? Gott besucht, Gott erlöst, Gott richtet auf, Gott rettet, Gott erzeigt Barmherzigkeit, Gott gedenkt an seinen Bund.

So geschieht es immer an den Grenzen des Lebens, wenn sich neues Lebens zeigt, wenn Leben geschenkt und wieder genommen, nein, eigentlich verwandelt wird. Leben machen wir nicht, es wird uns geschenkt. Deshalb sollten wir es auch nicht mutwillig nehmen oder aus eigenem Willen beenden. Es ist Gabe und Aufgabe zugleich. Gott weiß, wann es an sein Ziel gekommen ist und er es wieder zu sich nimmt. In der Gabe des Lebens gedenkt Gott an seinen Bund, dass wir das Leben und volle Genüge haben sollen; er erzeigt Barmherzigkeit, er richtet auf, er rettet, er erlöst.

Nur: Was machen wir oft aus diesem Geschenk? Kinder verhungern, werden geschlagen, vernachlässigt, tausend Gefahren ausgesetzt, ja getötet oder dem Tode preisgegeben. Gott sieht das, weiß das, kennt das, hat das schmerzlich am Leib seines eigenen Sohnes erfahren, welchen Risiken das Leben unter den unerlösten Menschen ausgesetzt ist. Er könnte uns allen dafür das Leben nehmen. Aber er will ja nicht, dass aufhört Saat und Ernte, Sommer und Winter, Tag und Nacht ...

Leben kann nur zum Leben kommen, wenn es gewagt und gestaltet wird in all den Gefährdungen, in Ängsten und Brüchen. Gott wagt in jedem Kind, uns eine Botschaft zu übermitteln: "Und du Kindlein, wirst ..." Ja, was wirst du sehen und singen und sagen, was wirst du gestalten und wieder zurechtbringen, was wirst du leisten und geben, was wirst du bezeugen und beglaubigen mit deinem Leben?

Bei Johannes bekommen wir es zu hören, gleich am Anfang. Der Vater singt es ihm vor, wie später die Mutter eines anderen Sohnes ihm vorsingt sein Leben und seine Aufgabe: Du wirst vor dem Herrn hergehen, "Vorläufer" sein, den Weg bereiten, Erkenntnis des Heils vermitteln, Sünden vergeben ...

Was für eine Biographie ergibt sich aus solcher Ansage am Anfang, am Beginn des Lebens? Wir kommen ins Leben mit einer Aufgabe, einer Verheißung, einem Zuspruch, einem Segen ... jeder und jede von uns. Und am Ende? Können wir mit den Schwerkranken und Sterbenden, solange sie noch sprechen können, hören und verstehen können, Biographie aufarbeiten, die eigene Lebensgeschichte anschauen und verstehen?

Wer das tut, kommt nicht ohne Barmherzigkeit aus, ohne Trost, ohne den Dienst der Aufrichtung. Der muss zuallererst wagen, hinzugehen, einen Besuch zu machen, aufmerksam zuzuhören, Rede und Antwort zu stehen - wie Gott es hier vormacht in diesem Loblied des Zacharias. Man könnte sagen, dass unsere Aufgabe als Hospizhelferinnen und Hospizhelfer am Ende des Lebens vor-abgebildet ist in diesem "Geburtstext", dass es in der Sterbebegleitung um so etwas wie geistliche Geburtshilfe geht am anderen Lebenstor mit den gleichen Fähigkeiten und Qualitäten, mit denen Gott den Johannes geleitet hat in sein Leben: besuchen, erlösen, aufrichten, liebevoll reden, erretten aus Angst und Not, Barmherzigkeit erzeigen, an den Gottesbund erinnern.

In der katholischen Tradition heißt der seelsorgerliche Dienst an Kranken und Sterbenden bezeichnenderweise der "Dienst der Aufrichtung". Es ist nicht gesagt, in welches Leben wir dabei geleiten, in das Leben hier bei uns oder in das Leben bei Gott, aber es ist immer ein Hebammendienst, eine Geburtshilfe, ein Dienst der Aufrichtung.

Gott allein bestimmt den Weg, wir müssen ihn nicht entwerfen, herstellen, begradigen, abkürzen, nach eigenen Gutdünken gestalten. Wir dürfen ihn mitgehen und begleiten, selber manchmal Vorläufer und Wegbereiter, Mitläufer und Helfer, Nachläufer und Verstehender sein bis zu einem Ziel, das Gott setzt, schon gesetzt hat vor aller Zeit. Gott besucht nicht irgendwen und irgendwo, sondern sehr genau: uns, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, auf  dass er unsere Füße richte auf den Weg des Friedens.

Da ist sie: die andere Grenze des Lebens. Finsternis und Schatten des Todes. Unser Lebensschicksal, das wir aber nicht alleine tragen. Einer ist uns nachgegangen, mitgegangen, vorangegangen gerade in dieser Situation, Befindlichkeit und Herausforderung. "Ich möcht', dass einer mit mir geht, der's Leben kennt, der mich versteht ..." - so singen wir von ihm.

Prodromos, Vorläufer, wurde auch Jesus auf seine Weise bei seinem Weg ans Kreuz, in die Tiefe der Gottverlassenheit. Er blieb darin nicht stecken, er ging weiter von einer Grenze des Lebens zur anderen: Er wurde ausersehen als der Sohn Gottes, uns die Grenze des Todes zu überwinden in seiner Auferstehung.

Davon weiß Johannes der Täufer jetzt noch nichts. Aber er wird die starke Wirklichkeit von Tod und Auferstehung symbolhaft vorwegnehmen in der Taufe am Jordan zur Vergebung der Sünden: hinunter ins Wasser, in den Tod, und wieder herauf an das Licht des Himmels in ein neues, verwandeltes Leben.

Wozu das alles, dieses bewusste Wahrnehmen göttlicher Vorgaben und menschlicher Möglichkeiten an den Grenzen des Lebens? Auch darauf gibt Zacharias eine Antwort: "damit wir, erlöst, Gott dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit, die ihm gefällig ist ..."

Das hat etwas sehr Entlastendes: Es geht nicht immer um die Grenzen des Lebens, es darf auch einfach gelebt werden mitten drin, ohne an diese Grenzen zu denken, von ihnen geprägt oder bestimmt zu sein. Aber nicht ohne eine starke Ermutigung und einen wichtigen Hinweis: "Seid ohne Furcht!" und "Richtet eure Füße auf den Weg des Friedens!"

Wie seelsorgerlich doch dieses Lied, dieser Psalm ist: der Benedictus, täglich gebetet im Morgengebet der monastischen Tradition, Anweisung zum Leben und zum Sterben, Hilfe zum Grenzübertritt und Ermutigung zum Mittendrin: dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit, wie es Gott gefällt. Das wünsche ich uns allen. Amen.

Peter Godzik