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Erich Gutkind

Unter den vielen intellektuellen Gruppenbildungen, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts dem subkulturellen Leben im spätwilhelminischen Deutschland Licht und Farbe gegeben haben, ragt der Forte-Kreis in vielfacher Hinsicht heraus. Er gewährt weniger Einblick in die Art und Weise, wie sich Intellektuelle im Zeichen gemeinsamer Weltanschauung zusammenschließen, als über die offen bleibendere Form, sich in einem von ethischen Energien beflügelten utopischen Projekt über die eigene Zeit und ihre grundlegende Krise Klarheit zu verschaffen.

Der Kern der Gruppe, der aus Erich Gutkind (1877-1965) und Frederik van Eeden (1860-1932) bestand, inaugurierte im Juni 1914 in Potsdam kurz vor Ausbruch des Weltkrieges eine Gründungstagung. An ihr nahmen weiterhin teil: der Lehrer Gutkinds Gustav Landauer, dessen Freund Martin Buber sowie, Henri Borel, Poul Bjerre, Theodor Däubler und Florens Christian Rang. Die Beiträge des Sammelbandes charakterisieren den Forte-Kreis in der prismatischen Brechung seiner Mitglieder und einiger, die ihm nahestanden wie Walther Rathenau, R.M. Rilke und Romain Rolland. Studien zum Tolstoianismus, zur "Neuen Gemeinschaft" und der Münchener Räterepublik klären wichtige Voraussetzungen und Folgen dieser ungewöhnlichen Intellektuellengruppe. (Cover)

Mystische Einflüsse bei Barlach

Die Vorstellung einer im Weltprozeß sich wandelnden und verwirklichenden Gottheit, die sich aus der deutschen Mystik herleitet und von der romantischen Philosophie neu aufgenommen wurde, tritt nach der Wende zum 20. Jahrhundert vielfach wieder zutage. Barlach begegnete ihr in Volkers Schrift "Siderische Geburt", in der altes gnostisch-theosophisches Gedankengut zur prophetischen Verkündigung einer "neuen überpersönlichen Religion" aufgenommen wurde. Hier ist die Vorstellung eines grenzenlosen Prozesses der Weltrealisierung ausgeprägt, der durch den Abfall Gottes von sich selbst zu ewig neuer Steigerung bewegt wird.

Horst Wagner: Barlach - "Die Sündflut", in: Benno von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen, Band II, Düsseldorf 1958, S. 345.

Barlach, der von sich bekannt hat, zum Christentum keine innere Verbindung mehr zu besitzen, neigte Zeit seines Lebens zu metaphysischen Spekulationen, die deutlich in seine Dramen eingegangen sind. Es erhebt sich die Frage nach der ideengeschichtlichen Verwurzelung dieser Spekulationen etwa in der Mystik Jakob Böhmes, dessen Werke sich in Barlachs Güstrower Privatbibliothek mit den Spuren (zahlreichen Bleistiftnotizen) emsiger Lektürebenutzung befanden.

Wesentlich nachhaltiger scheint jedoch der Einfluß einer anderen spekulativen Schrift gewesen zu sein, die Erich Gutkind (Mitglied des Potsdamer Forte-Kreises wie Theodor Däubler) 1910 unter dem Pseudonym "Volker" veröffentlichte: "Siderische Geburt. Seraphische Wanderung vom Tode der Welt zur Taufe der Tat".

Barlach ist nicht nur in seinen "Güstrower Fragmenten" auf dieses Buch eingegangen, sondern hat auch in einem Brief vom März 1913 [an Arthur Moeller van den Bruck] ausdrücklich betont: "Ich würde Ihnen gern ein Buch schicken, mit dem ich mich kürzlich intensiv beschäftigt habe, Volker, 'Siderische Geburt' ... mir scheint das Werk in mehr als einem Betracht außerordentlich, ja, bisweilen prophetisch-großartig" (Br I, 411).

Diese Schrift, "in der altes gnostisch-theosophisches Gedankengut zur prophetischen Verkündigung einer 'neuen überpersönlichen Religion' aufgenommen wurde", bezeichnet also eine der Wurzeln dessen, was man in der Forschung als Barlachs "Mystik" beschreibt. Es handelt sich um einen sehr komplexen, keineswegs klar abzuschätzenden Sachverhalt, der als Bedingung von Barlachs dramatischem Schaffen ins Spiel kommt. Der Eklektizismus und die Verworrenheit dieser "Mystik" wirft einen Schatten über Barlachs Dramenwerk, der sich als ideologische Hypothek bezeichnen ließe.

Manfred Durzak, Das expressionistische Drama. Ernst Barlach - Ernst Toller - Fritz von Unruh, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1979, S. 27-28.

Literatur:

  • R. Faber/C. Holste (Hg.), Der Potsdamer Forte-Kreis (1910-1915). Eine utopische Intellektuellenassoziation zur europäischen Friedenssicherung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001.