Stellungnahme zur NEK-Handreichung "Ehe, Familie und andere Lebensformen"

Der KV der Domgemeinde hat sich auf seiner Klausurtagung am 03.02.1996 mit der NEK-Handreichung "Ehe, Familie und andere Lebensformen" be­schäftigt. Er hat sich dabei auf das Kapitel 8 "Homosexualität" beschränkt. Besonders die "Fragen und Impulse zur Weiterarbeit" waren Leitfaden für die im KV geführte Diskussion.

Pastor Godzik legt dem KV auf seiner Sitzung vom 14.02.1996 folgende Zusammenfassung der Diskussion aus seiner Sicht vor:

1. Die meisten von uns kennen homosexuell liebende Menschen in ihrer Umgebung. Einige von ihnen können offen über ihre besondere Neigung sprechen, andere zögern immer noch, weil sie Diskriminierungen fürchten.
Den Mitgliedern des KV stehen dabei auch Menschen vor Augen, die erst relativ spät ihre homosexuelle Neigung entdeckt und praktiziert haben. In manchen Fällen war diese Umorientierung mit schmerzhaften Konflikten ver­bunden.
Von daher scheint es sinnvoll, zwischen Konstitution, Veranlagung, Nei­gung und Prägung zu unterscheiden und eine Geschichte der jeweiligen sexuellen Entwicklung in den Blick zu nehmen. Eine Festlegung auf eine unabänderliche Konstitution oder Veranlagung der sexuellen Neigung oder Prägung entspricht m.E. nicht den verschiedenen Phänomenen und ist für die Debatte wenig hilfreich. Sexuelle Verhaltensweisen sollten nicht im Mittelpunkt des Interesses und der Gespräche stehen, sondern mit einer gewissen Diskretion behandelt werden. Angesichts beruflicher Erwartungen sollte geprüft werden, ob die jeweilige sexuelle Prägung eher hinderlich für den erwählten Beruf ist oder nicht.

2. Der KV nimmt zur Kenntnis, daß das Thema "Homosexualität" gegen­wärtig auf allen Ebenen kirchlichen Handelns in Deutschland und auch dar­über hinaus behandelt wird. Es gibt ein weitverbreitetes Interesse homo­sexueller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dieses Thema öffentlich zu behandeln und die Kirche zu weitergehenden Entscheidungen im Rahmen des jeweiligen Dienstrechts zu bringen. Für Pfarrerinnen und Pfarrer wird z.B. die Aufhebung des Verbots gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in Pfarr­häusern gefordert.
Der KV hat sich aufgrund der öffentlich geführten Debatte schon zweimal im Rahmen einer Klausurtagung mit diesem Thema beschäftigt. Anlaß waren besorgte Stimmen einzelner Mitglieder des KV, die die Kirche hier auf einem falschen Weg der Liberalisierung und öffentlichen Anerkennung einer von der Bibel ablehnend beurteilten Lebenspraxis sehen.
Auf der Ebene der Gemeinde sollte das Thema "Homosexualität" nur dann angesprochen, werden, wenn konkrete Fälle und Nachfragen dazu zwingen. Die bisherige Praxis, im Einzelfall diskret und seelsorgerlich mit Betroffe­nen umzugehen, sollte beibehalten werden. Es entspricht nach wie vor der Realität in der Gemeinde, daß bei Bekanntwerden homosexueller Neigungen einzelner durchaus qualifizierter Mitarbeiter z.B. in der Kinder- und Jugendarbeit die Eltern ihre Verantwortung für ihre jeweiligen Kinder so wahrnehmen, daß sie ihre Kinder dem betreffenden Mitarbeiter nicht mehr anvertrauen. Entgegen aller gegenteiligen Beteuerungen wird nach wie vor ein problematischer Einfluß auf die homosexuellen Mitarbeiterinnen und Mit­arbeitern anvertrauten Kinder und Jugendlichen vermutet.

3. Die Mitglieder des KV begrüßen es, daß praktizierte Homosexualität unter Erwachsenen nicht mehr unter Strafe gestellt wird. Die Bedrohung homosexuell liebender Menschen an Leib und Leben, wie sie zur Zeit des Nationalsozialismus praktiziert wurde, kann nur als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden. Sollte die Kirche in der Vergangen­heit solche Verhaltensweisen gebilligt oder gar unterstützt haben, war das ein Fehler, der unbedingt korrigiert werden muß.
Der seelsorgerliche Umgang mit homosexuell liebenden Menschen schließt nicht aus, daß auf etwaige seelische Fehlentwicklungen geachtet und an ihrer Überwindung gearbeitet wird. Die kritische Sicht der Bibel gegenüber praktizierter Homosexualität ist nicht von vornherein falsch und aufgrund von wissenschaftlichen Ergebnissen als unbeachtlich anzusehen. Es gilt, einer falschen Idealisierung der Homo­sexualität (und jeder anderen sexuel­len Prägung) zu wehren und sie auf ihre Verträglichkeit für das Indivi­duum und die Gemeinschaft hin zu überprüfen. Eine Befestigung der jewei­ligen sexuellen Neigung und Prägung in der persönlichen Identität oder gar Integrität des Menschen entspricht weder den humanwissenschaftlichen Er­kenntnissen noch der biblischen Sicht vom Menschen. Es wird als proble­matisch angesehen, wenn (noch dazu einseitig vorgetragene) humanwissenschaftliche Einsichten als "von unmittelbarem Belang für die Urteils­bildung in Theologie und Kirche" beschrieben werden. Unbestritten sind die (fair, nicht einseitig vorgetragenen) humanwissenschaftlichen Erkennt­nisse von Belang für die gegenwärtige Diskussion, zu "Einsichten" der christlichen Gemeinde werden sie aber erst, wenn sie am Maßstab von Bibel und Bekenntnis als den Kriterien christlicher Wahrheitsfindung geprüft worden sind.
Unklar und umstritten unter uns ist noch, inwieweit die biblischen Aus­sagen über die Homosexualität zeitgeschichtlich relativiert und in ihrer Aussagerichtung revidiert werden müssen. Am Beispiel des Segens ist uns deutlich geworden, daß eine eigentlich verwerfende Aussageintention (maledicere) eventuell abgeschwächt und aufgehoben, nicht aber in ihr Gegenteil (benedicere) verkehrt werden kann.

4. Mit Erstaunen haben die Mitglieder des KV zur Kenntnis genommen, daß die Einstellung homosexuell lebender Menschen in den kirchlichen Dienst längst gängige Praxis geworden ist. Von daher wird verständlich, wenn betroffene Menschen angesichts des ihnen in Dienstwohnungen nicht geneh­migten Zusammenlebens von einer "doppelten Moral" sprechen.
Für einige Mitglieder des KV ist die Einstellung homosexuell lebender Menschen in den kirchlichen Dienst nicht nur manchmal, sondern grund­sätzlich umstritten. Sie fragen sich, was es hindert, wenigstens bei den kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf das Zeugnis der Bibel zu achten und eine Lebensweise abzulehnen, die zwar in der Welt gang und gäbe ist, die aber aus guten Gründen in der Bibel verworfen wird. Sie fragen sich darüber hinaus, ob die kritischen Ansichten mancher Human­wissenschaftler über die Problematik gelebter Homosexualität genügend beachtet werden und ob es nicht an der Zeit ist, diese Erkenntnisse und die biblischen Mahnungen und Hinweise (z. B. 1. Korinther 6,9-11) stärker in die gegenwärtige kirchliche Diskussion einzubeziehen.

5. Bei der Frage der Segnung homosexueller Partnerschaften haben wir uns deutlich zu machen versucht, was Segen ist und wem der Segen nach dem biblischen Zeugnis gilt.
Segen wird als Gottes Zuspruch (benedicere) verstanden, um den wir für uns und andere bitten können. Er gilt dem Volk Gottes im alten und neuen Bund und darin auch dem einzelnen Menschen, der um diesen Segen für sich und sein Haus bittet. Insofern der Segen den Namen Gottes auf die Menschen legt (vgl. 4. Mose 6,27) bzw. sie mit dem Kreuz als Zeichen der Zugehörigkeit bezeichnet (segnen = cruce signare), ist mit dem Segen auch ein Anspruch Gottes auf ein Leben in entsprechender Bundesgemeinschaft verbunden (vgl. These 2 der Barmer Erklärung von 1934). Der Segen kann deshalb nicht allgemein und unabhängig von Gottes Wort erteilt werden, sondern ist ein den Menschen gebotenes Tun, das die göttliche Verheißung für sich geltend machen kann, ja muß, um überhaupt als Segen Gottes benannt und ausgesprochen werden zu können.
Für bestimmte Seins- und Verhaltensweisen des Menschen ist nach bibli­schem Zeugnis ein Segen vorhanden, z.B. für die partnerschaftliche Bezie­hung von Mann und Frau: "Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan" (1. Mose 1,28), für andere nicht, z.B. für die homosexuelle Beziehung zwischen Männern: "Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Greuel" (3. Mose 18,22). Diese Verwerfung (maledicere) kann zwar nach unserem heutigen Verständ­nis abgemildert und revidiert werden, es bestehen aber erhebliche Zweifel, ob sie in ihr Gegenteil, nämlich in einen Segen (benedicere), verwandelt werden kann. Die Handreichung bringt deutlich zum Ausdruck, daß der katholischen Schwesterkirche diese Unterscheidung noch bewußt ist: "Die spezifische Neigung der homosexuellen Person ist zwar in sich nicht sünd­haft, begründet aber eine mehr oder weniger starke Tendenz, die auf ein sittlich betrachtet schlechtes Verhalten ausgerichtet ist. Aus diesem Grunde muß die Neigung selbst als objektiv ungeordnet angesehen werden." (Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre über die Seelsorge für homosexuelle Personen, 1986)

6. Die meisten Mitglieder des KV lehnen eine Segnung homosexueller Part­nerschaften ab. Das schließt nicht aus, daß homosexuell empfindende Menschen als einzelne den Segen Gottes für sich erbitten und auch zuge­sprochen bekommen. Dieser Segen enthält im Kern die geschwisterlich gewährte Gemeinschaft und auch die seelsorgerlich bestimmte Zuwendung zu ihnen wie zu allen Menschen, die darum bitten. Die christliche Gemeinde ist daran interessiert, daß homosexuelle Partnerschaften wie alle anderen Partnerschaften von Liebe und gegenseitiger Achtung bestimmt sind. Sie möchte dazu beitragen, daß wechselnde Partnerschaften vermieden und lebenslange Beziehungen in gegenseitiger Treue und Rücksichtnahme gelebt werden können. Dafür kann die Gemeinde beten, Gottes Segen erbitten und ihre seelsorgerlichen Kräfte entfalten.
Öffentliche, im Gottesdienst zur Darstellung kommende Formen der Fürbitte und Segnung homosexueller Partnerschaften werden nicht für möglich gehalten, weil sie dem Mißverständnis Vorschub leisten, als habe sich die christliche Gemeinde mit der gelebten Homosexualität entgegen dem bibli­schen Zeugnis arrangiert und betrachte diese Lebensweise als eine unbe­denkliche neben anderen.
Uns ist bewußt, daß alle unsere Lebensweisen, auch die uns gebotenen und mit einer Verheißung versehenen, der Erlösung und Heiligung bedürfen, solange wir noch unterwegs sind.

Die von Pastor Godzik vorgetragene Zusammenfassung der bei der Klausurtagung geführten Diskussion löst unterschiedliche Reaktionen im KV aus. Ein Teil des Kirchenvorstands findet den Gesprächsgang im wesentlichen korrekt wiedergegeben und könnte die Stellungnahme auch so unter­schreiben, ein anderer Teil empfindet die persönliche Position von Pastor Godzik zu stark betont und möchte sich die vorgetragenen Argumente so nicht zu eigen machen. Die größte Zustimmung findet der Abschnitt sechs, der von den meisten anwesenden KV-Mitgliedern so mitgetragen werden kann.
Pastor Godzik wird gebeten, den Charakter dieser Zusammenfassung deutlich zu machen und sie unter seinem Namen als seine Stellungnahme auf dem Hintergrund einer Diskussion und Meinungsbildung im KV der Dom­gemeinde Schleswig dem Präsidium der Nordelbischen Synode zuzuleiten.

Schleswig, den 14.02.1996

gez. Peter Godzik

Pastor und Mitglied des KV der Domgemeinde Schleswig